Ein Ortsbesuch dazu im Istanbuler Stadtteil Aksaray, wo vor dem Deal das Geschäft der Schlepper mit Flüchtlingen boomte. Hier verkauften sie Schwimmwesten für die Überfahrt nach Lesbos und sammelten abends ihre Kunden ein. Noch wirkt deren Geschäft ruhig, doch auf der anderen Küstenseite ist man schon alarmiert: Griechische Beamte auf den Inseln der Ägäis fordern Notfallmaßnahmen, um sich auf einen neuen Flüchtlingsstrom vorzubereiten.
Im Schnitt kamen zuletzt nur noch 47 Migranten am Tag, verglichen mit 1740 pro Tag im Februar, dem letzten Monat vor Eintritt des Flüchtlingsdeals. Doch seit ein paar Tagen steigen die Zahlen wieder konstant über 100. Der Grund: Erdoğan hat Soldaten, die die Küste nach auslaufenden Flüchtlingsbooten absuchten, abgezogen.
Eine Wiederholung des vergangenen Sommers, als Tausende Syrer, Iraker und Afghanen die Strände von Lesbos und anderen griechischen Inseln bevölkerten, gilt dennoch als unwahrscheinlich. Unter Flüchtlingen und Schleppern hat sich herumgesprochen, dass die „Balkanroute“ dicht ist und alle sie dicht halten wollen – wie der bulgarische Ministerpräsident Bojko Borissow, der vorige Woche so besorgt über die Lage an der Landgrenze zur Türkei war, dass er bei Kanzlerin Merkel anrief. Die schellte dann bei EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker durch, und, schwupps, standen 60 zusätzliche Frontex-Grenzbeamte als Hilfe für Bulgarien bereit. Auch Ungarn hat, mit deutscher Hilfe, vorsorglich 8000 Polizisten an der Grenze zu Serbien aufgeboten. Selbst wenn Erdoğan die Schleusen öffnete, wüssten also die meisten Flüchtlinge, dass sie nach der riskanten Überfahrt nicht in Deutschland, sondern in einem griechischen Camp landeten.
Flüchtlinge als Stammwähler und Konsumenten gewinnen
Erdoğans Drohungen, den Flüchtlingsdeal platzen zu lassen, sind somit ein gewagter Poker. Und auch die Drohkulisse, die rund drei Millionen in der Türkei lebenden Flüchtlinge gen Europa zu schicken, ist wenig überzeugend. Anfang Juli verkündete Ankara ja, 300.000 von ihnen die türkische Staatsbürgerschaft anzubieten. Die Regierungspartei rechnet, dass sie sich zu ihren Stammwählern entwickeln und per Konsum Wirtschaftswachstum befeuern.
Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt
Dürfen türkische Staatsbürger irgendwann ohne Visum nach Europa reisen oder nicht? Die Antwort auf diese Frage kann nach Auffassung der EU-Kommission nur die Regierung in Ankara geben. Die Brüsseler Behörde sah in ihrem jüngsten offiziellen Bericht noch 5 der 72 Vorgaben für eine Visaliberalisierung als nicht erfüllt an.
In der Türkei wurde am 30. April eine neue Strategie dazu beschlossen. Im jüngsten Bericht stellten Experten der EU-Kommission allerdings fest, dass noch mehr getan werden müsse, um Korruption unter Parlamentariern, Richtern und Staatsanwälten zu verhindern. Dabei geht es unter anderem um Vorgaben zur Parteienfinanzierung und zur Unabhängigkeit der Justiz. Die EU weist dabei auf ein Gutachten der „Staatengruppe gegen Korruption“ (Greco) hin.
Laut der Darstellung im Fortschrittsbericht hatten die türkische Behörden bis zuletzt lediglich die Absicht erklärt, künftig enger mit den Behörden in EU-Staaten zusammenzuarbeiten, um die in der Türkei geltenden Rechtsvorschriften und Verfahren zu erklären. 2014 und 2015 wurden türkischen Statistiken zufolge 49 Auslieferungsanträge aus EU-Ländern gestellt, ein Großteil davon wurde noch nicht abschließend bearbeitet. Nur sechs Anträge wurden genehmigt.
Bei der jüngsten offiziellen Bestandsaufnahme lag der EU lediglich ein Absichtsbekundung der Türkei vor.
Ein im Frühjahr beschlossenes Gesetz entspricht nach Auffassung der EU-Kommission nicht den Anforderungen. Es sei nicht sichergestellt, dass die Datenschutzbehörde unabhängig handeln könne, lautete die Kritik. Es wurde gefordert, dass die neuen Datenschutzregeln auch für Strafverfolgungsbehörden gelten müssen.
Dies ist der umstrittenste Punkt. Die EU verlangt von der Türkei den geltenden Rechtsrahmen und die Standards zur Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus zu überarbeiten. So soll unter anderem die Definition von Terrorismus enger gefasst werden, um auszuschließen, dass auch missliebige Journalisten oder politische Gegner verfolgt werden können. Der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hat jedoch zuletzt deutlich gemacht, dass er im Gegenzug ein härteres Vorgehen gegen die verbotene Kurdische Arbeiterpartei PKK in Europa erwartet.
Die Ankündigung Ankaras, den Flüchtlingsdeal aufzukündigen, nimmt man daher in Brüssel eher gelassen auf. Kommissionspräsident Juncker hat zwar in einem Interview von einem „großen Risiko“ gesprochen, dass der Deal platzen könnte. Doch damit wollte er den Türken offenbar zeigen, dass auch die Europäer Drohgebärden beherrschen. „Auf der Arbeitsebene sind wir alle entschlossen, dass der Flüchtlingsdeal weiter funktioniert“, sagt ein türkischer Diplomat.