EU-Gipfel Flüchtlingsstreit reloaded

EU-Ratspräsident Donald Tusk will eine Wende in der Flüchtlingspolitik: Die EU sollte nicht mehr versuchen, ihre Mitglieder zur Aufnahme von Flüchtlingen zu zwingen. Aus Deutschland kommt heftige Kritik.

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Der Kompromiss zur Verteilung von Flüchtlingen innerhalb der EU wird von einigen Staaten ignoriert. Quelle: dpa

Brüssel In den vergangenen Monaten war es vergleichsweise ruhig geworden im Streit um die europäische Flüchtlingspolitik. Hin und wieder war die Diskussion zwar wieder hochgekocht, etwa als die EU-Kommission Verfahren gegen die aufnahmeunwilligen Länder Polen, Ungarn und Tschechien einleitete. Auf der großen politischen Bühne aber fand das Theater um die verpflichtende Flüchtlingsquote kaum mehr statt: Die EU-Staats- und Regierungschefs mieden das Thema lieber, das im Herbst 2015 die Europäische Union gespalten hatte wie keines zuvor, und konzentrierten sich darauf, die EU-Außengrenzen mithilfe von Dritten wie der Türkei oder Libyens abzudichten.

Vor dem EU-Gipfel am Donnerstag aber ist der Streit auf die Brüsseler Bühne zurückgekehrt, und zwar mit Wucht. Denn: Ratspräsident Donald Tusk hat die Frage der Flüchtlingsverteilung auf die Tagesordnung des gemeinsamen Abendessens gesetzt und mit einer eigenen schriftlichen Handlungsempfehlung verbunden: Die verbindliche Verteilungsquote sei „hochgradig entzweiend“ und zugleich „ineffektiv“, heißt es in dem zweiseitigen Papier. Sprich: Der Zwang zur Aufnahme von Flüchtlingen müsse endlich vom Tisch, um den Streit beizulegen. In einem früheren Entwurf Tusks hatte es zudem geheißen: „Nur die Mitgliedsstaaten können die Migrationskrise wirksam angehen.“

Das aber brachte die EU-Kommission auf die Palme, die eben diese Quotenlösung im Frühjahr 2015 vorgeschlagen hatte. Der zuständige Kommissar Dimitris Avramopoulos bezeichnete Tusks Vorschläge als „anti-europäisch“ und „nicht hinnehmbar“. Dieser untergrabe eben jenes Solidaritätsprinzip, das er als EU-Ratspräsident zu verteidigen habe, schimpfte Avramopoulos.

Vizekommissionspräsident Frans Timmermans widersprach ebenfalls energisch: Die 2015 beschlossene Politik der Umverteilung sei nicht wirkungslos, sagte er mit Blick auf jene rund 32.000 Asylbewerber, die in den vergangenen zwei Jahren aus Italien und Griechenland auf andere EU-Staaten umverteilt worden waren, und jeder einzelne Mitgliedstaat müsse seinen Teil beitragen. Der Fraktionschef der Liberalen im Europaparlament Guy Verhofstadt zeigte sich „total geschockt von Tusks Papier“.

Bereits vor seiner Veröffentlichung am Dienstagabend hatte Tusks Note für Ärger gesorgt: In den Gipfelvorbereitungen kritisierten besonders die Vertreter Deutschlands, Schwedens und Italiens die Abkehr von der Quote scharf.

Unter den vier osteuropäischen Staaten der Visegrad-Gruppe fand der Pole Tusk hingegen Beifall, schließlich lehnen diese kategorisch ab, sich zur Aufnahme von Flüchtlingen aus besonders belasteten Frontstaaten wie Italien oder Griechenland verpflichten zu lassen. Mit seinem „hysterischen Wutausbruch“ sei Avramopoulos eindeutig zu weit gegangen, kritisierte ein osteuropäischer Diplomat – das gezieme sich gegenüber dem Ratspräsidenten nicht.

Aus Sicht der Visegrad-Staaten sollte sich die EU darauf konzentrieren, ihre Außengrenzen zu sichern und Migranten gar nicht erst nach Europa kommen zu lassen. Dann sei eine Umverteilung innerhalb Europas gar nicht erst nötig, sagt ein Diplomat. Sollte der Andrang dennoch einen Mitgliedstaat überfordern, könnten aufnahmewillige Länder freiwillig Asylsuchende umsiedeln.

Unter europäischer Solidarität verstehen Polen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei daher vor allem Hilfe zur Grenzsicherung. Im Vorfeld des Gipfels werden sich die vier Regierungschefs mit ihrem italienischen Kollegen Paolo Gentiloni treffen, und ihm laut EU-Diplomaten finanzielle Hilfe zusagen: In Aussicht gestellt werde ein „sehr signifikanter Beitrag“ für die  Sicherung der Grenzen in Libyen, besonders zu dessen südlichen Nachbarn, heißt es.

Auf dem Weg nach Italien überqueren viele Menschen von Niger oder dem Tschad aus die Wüstengrenze des nordafrikanischen Landes. Die italienische Regierung kooperiert bereits eng mit den libyschen Behörden und der Küstenwache und konnte so die Zahl der Neuankömmlinge stark reduzieren. Menschenrechtler prangern aber die katastrophale humanitäre Lage vieler in Libyen festsitzender Migranten an.

Die Debatte beim Gipfeldinner dürfte also lebhaft ausfallen. Wenn es das war, was Tusk erreichen wollte, hat er sein Ziel erreicht. Ob er damit auch dem erklärten Ziel gedient hat, binnen sechs Monaten das Streitthema per Konsens aus der Welt zu schaffen, ist weit weniger ausgemacht.

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