Flüchtlingsgipfel in Wien Tacheles statt diplomatischem Blabla

Es ist der große Streitpunkt: Wie soll die EU mit Flüchtlingen umgehen? Bundeskanzlerin Merkel mehr Deals mit Staaten in Nordafrika und dem Nahen Osten will, provoziert Ungarns Premier Orbán mit drastischen Forderungen.

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Zwischen den EU-Staaten herrscht Uneinigkeit über den Umgang mit geflüchteten Menschen. Quelle: dpa

An die Donau zieht es die Bundeskanzlerin immer häufiger. Nach dem informellen EU-Gipfel in der slowakischen Hauptstadt Pressburg (Bratislava) am vergangenen Wochenende reiste die Bundeskanzlerin am Samstag nach Wien. Als sie im schweren Audi vor das Wiener Kanzleramt vorfuhr, wurde sie von ihrem österreichischen Amtskollegen Christian Kern persönlich abgelohnt. Der seit Mai amtierende sozialdemokratische Regierungschef umwirbt seine deutsche Amtskollegin. Kern setzt auf die enge Zusammenarbeit mit Deutschland. Das ist ein Novum.

Im Februar hatte Österreichs ebenfalls zu einem Flüchtlingsgipfel mit den Balkan-Ländern geladen – ohne Deutschland und Griechenland. Das auf Initiative des österreichischen Außenministers Sebastian Kurz (ÖVP) organisierte Treffen führte zur Schließung der Balkan-Route und zu jede Menge politischen Ärger. Plötzlich schien Deutschland durch die 180 Grad-Wende Österreichs mutterseelenallein mit seiner Flüchtlingspolitik. Doch das war gestern.

Merkel ist in Wien gelungen, die politische Agenda um einen weiteren, möglicherweise sehr wichtigen Punkt zur Lösung des Flüchtlingsproblems zu bereichern. In einem kleinen Salon des österreichischen Bundeskanzleramts verkündete die selbstbewusste Kanzlerin ihre Initiative: Nach dem immer noch wackeligen EU-Deal mit der Türkei soll die EU ähnliche Abkommen auch mit Ägypten, Afghanistan und Ländern aus dem Nahen Osten und Afrika treffen.

„Wir wollen möglichst schnell Drittstaatenverträge mit Nordafrika und mit afrikanischen Staaten fertigstellen“, sagte Merkel. „Wer nicht aus humanitärer Sicht in Europa bleiben kann, der wird auch wieder in das Heimatland zurückgeführt.“ Vorrang hat für die Kanzlerin unterdessen ein Deal mit Ägypten. „Ein Abkommen, wie wir es mit der Türkei haben, muss nun mit Ägypten erarbeitet werden“, sagte Merkel. „Wir wollen Illegalität bekämpfen, die Legalität fördern“, lautete ihr Credo in Wien.

Im März hatte die EU mit der Türkei ein Abkommen geschlossen. Trotz des undurchsichtigen Putschversuchs gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan hielt die Vereinbarung, die festlegt, dass die Türkei für Milliarden schwere Finanzhilfen alle in die EU eingereisten illegalen Flüchtlinge wieder zurücknimmt. Seitdem sind die Flüchtlingszahlen in der Ägäis sehr stark zurückgegangen.

In Wien wurde statt diplomatischen Blabla durchaus Tacheles geredet. Das lobte sowohl der österreichische Kanzler Kern als auch Ungarns Premier Viktor Orbán auf getrennten Pressekonferenzen unmittelbar nach dem vierstündigen Gipfel übereinstimmend. „Die Probleme sind nicht gelöst. Doch es wächst das Verständnis“, lobte Kern.


Die Gemeinsamkeiten sind gering

Zwischen dem ersten und zweiten Flüchtlingsgipfel in Wien ist viel geschehen. Allen vertretenen Staats- und Regierungschef – von Deutschland über Ungarn und Serbien bis nach Griechenland – waren sich einig, die EU-Außengrenzen besser sichern. Die personelle Aufstockung der europäischen Grenzschutzagentur Frontex ist dafür ein Beleg. „Der Fokus liegt darauf, die EU-Außengrenzen hundertprozentig zu schützen“, sagte Kanzler Kern. Für den verbesserten Grenzschutz hat die EU sogar eine kleine Verschnaufpause. Denn ab Herbst lässt wegen der klimatischen Bedingungen die Zahl der Flüchtlinge im Mittelmeer nach.

Noch sind die Gemeinsamkeiten zwischen allen Beteiligten aber klein. Es reichte nur zu einem gemeinsamen Gruppenfoto unter dem Porträt der österreichischen Kaiserin Maria Theresia im Steinzimmer des österreichischen Bundeskanzleramts. Für eine gemeinsame Pressekonferenz war der Konsens zu gering.

Unmittelbar nach dem Ende des rund vierstündigen Gipfels hatte Ungarns Premier in die Botschaft seines Landes, nur wenige hundert Meter vom österreichischen Bundeskanzleramt, eingeladen. Der Intimfeind Merkels in der EU zog richtig vom Leder. Ungarn sei von der EU mit der verpflichtenden Verteilquote für die Flüchtlinge über den Tisch gezogen worden, gab der Rechtspopulist zu Protokoll. „Wir wollen das Recht haben zu entscheiden, mit wem wir zusammenleben wollen und nicht Brüssel“, sagte Orbán in Wien.

Das Ziel seiner polemischen Botschaft waren die Landsleute zu Hause in Ungarn. Denn der Führer der rechtspopulistischen Partei Fidesz, die im Budapester Parlament über ein fast Zwei-Drittel-Mehrheit verfügt, lässt am kommenden Sonntag über die EU-Flüchtlingspolitik abstimmen. „Wir wollen mit dem Referendum zeigen, dass wir uns als kleines Land nicht über den Tisch ziehen lassen“, sagte Orban in Richtung Merkel, die auf die Einhaltung der Flüchtlingsquoten pocht. Mit Hilfe des Plebiszits will Orbán seine Position innenpolitisch stärken und womöglich die Verfassung des EU-Landes ändern.

Trotz der Meinungsunterschiede will der Ministerpräsident jedoch an einer Mitgliedschaft Ungarns in der EU festhalten. Daran lässt der ungarische Premier keine Zweifel. „Wir sind nicht beigetreten, um auszutreten“, sagte in Wien. Ungarn gehört der EU seit 2004 an.

Die von Orbán gefeierte Schließung der Balkan-Route führte auch auf dem Wiener Gipfel zu Frustrationen. Denn in Serbien und Mazedonien kommt es zu einem Rückstau von Migranten. Insbesondere Serbien fühlt sich mit dem Problem allein gelassen. Serbiens Regierungschefs Aleksandar Vucic ließ laut Staatsfernsehen RTS mitteilen, er sei mit dem Wiener Treffen unzufrieden. Sein Land drohe daher, ein Opfer dieser Meinungsverschiedenheiten zu werden. Derzeit lässt Ungarn täglich nur 30 Migranten über die serbisch-ungarische Grenzen.

„Es ist eine Illusion, dass man seine Grenze restlos abriegeln kann. Das ist klar“, sagte der österreichische Bundeskanzler Kern. Er sagt, die noch verbliebenen Flüchtlinge auf dem Balkan seien nicht vergessen. „Sie werden kommen“, sagte Kern in Hinblick auf die Lager in Serbien an der Grenze zu Ungarn. Täglich würden es 100 bis 150 Flüchtlinge pro Tag nach Österreich schaffen.


Umverteilung von Flüchtlingen stockt

Merkel macht unterdessen Druck, dass die Verteilung der Flüchtlinge in der EU vorankommt. Eigentlich hatten sich die EU-Staaten rechtsverbindlich darauf geeinigt, 160.000 Flüchtlinge vor allem aus Italien und Griechenland umzuverteilen, doch bisher ist wenig geschehen. Nach Angaben der Bundeskanzlerin seien erst 4000 Migranten vom griechischen Festland auf die EU-Staaten verteilt worden. Nach dem Willen der griechischen Regierung sollen weitere 5000 Flüchtlinge folgen.

„Die Sache muss beschleunigt werden“, sagte Merkel. Sie fürchtet, dass ansonsten „der Druck auf der bulgarisch-griechischen Grenze noch mal zunehmen“ werde. Dort errichtet die Regierung Grenzzäune, um die illegale Einreise aus der Türkei zu unterbinden. Flüchtlingsorganisationen berichten von Übergriffen von bulgarischen Behörden auf Flüchtlinge, denen die ungesetzliche Einreise gelungen sei.

Orbán verfolgt unterdessen seine eigene Agenda. Er will Flüchtlinge wieder zurück in eigene Camps auf den nordafrikanischen Kontinent zurückschaffen. Um beispielsweise Italien zu entlasten, schlägt der Premier die Einrichtung eines Flüchtlingslagers im Bürgerkriegsland Libyen für Millionen von Flüchtlingen vor. „Uns muss ein Küstenabschnitt zur Verfügung gestellt werden“, sagte er. Orban fordert ein Ende des Waffenembargos für die Regierung in der libyschen Hauptstadt Tripolis und einen verstärkten Kampf gegen den IS, um das nordafrikanische Land zu befrieden und somit die Voraussetzung für derartige Flüchtlingscamps zu schaffen.

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