Flüchtlingspolitik in Europa Die große Illusion der Österreicher

Mit dem Alleingang von Österreich und den Balkan-Ländern in der Flüchtlingskrise beschleunigt sich der Zerfall Europas. Ohne Griechenland und Deutschland wird es keine Lösung geben. Ein Kommentar.

  • Teilen per:
  • Teilen per:
Österreich hat am Donnerstag mit Westbalkan-Staaten wie Mazedonien ein schärferes Vorgehen in der Flüchtlingskrise angekündigt. Quelle: AP

Wien Ein Kunststück der besonderen Art wollte der österreichische Außenminister Sebastian Kurz mit seiner Balkankonferenz zustande bringen. Der 29-jährige Chefdiplomat des Alpenlandes gelang es innerhalb weniger Wochen mit neun Balkan-Staaten ein Bündnis zur Abwehr von Flüchtlingen in Südosteuropa zu schmieden. Der konservative Politiker gefällt sich in der Rolle des europäischen Politikers.

Doch Kurz und mit ihm die österreichische Bundesregierung haben sich einen Bärendienst erwiesen. Ihr diplomatischer Alleingang trägt nicht zu einer Lösung bei. Im Gegenteil, er beschleunigt den Zerfallsprozess in Europa.
„Schande“ nannte der griechische Premier Alexis Tsipras die Wiener Balkan-Konferenz. Stärker kann ein Regierungschef eines EU-Landes seinen Unmut nicht ausdrücken.

Die massive Kritik ist durchaus berechtigt. Denn ohne Griechenland wird es keine Lösung geben. Ausgerechnet Athen von einem Lösungsversuch auszusperren, ist nicht nur politisch unklug, sondern auch fatal. Denn Tsipras hat bereits angekündigt, so lange Entscheidung in der EU zu blockieren, bis endlich der Plan zur Flüchtlingsverteilung auf EU-Ländern steht.

Daher wird es auf der Sitzung der EU-Innenminister am Donnerstag in Brüssel hoch hergehen. Ob es angesichts des mittlerweile zerrütteten Verhältnisses zwischen den EU-Mitgliedsstaaten zu wirklichen Lösungen überhaupt kommen kann, steht in den Sternen.
Neben Griechenland war auch Deutschland nicht zur Wiener Balkankonferenz eingeladen worden. Die Bundesregierung hielt sich vornehm mit Kritik am österreichischen Alleingang zurück. Dabei spielt Deutschland als Hauptzielland der Flüchtlinge die entscheidende Rolle, auch wenn das Nachwuchspolitiker in Wien nicht wahrhaben wollen. Eine bessere Zusammenarbeit der Polizeibehörden von Österreich und Balkanstaaten – die am Mittwoch in Wien vereinbart wurde – nützt wenig, wenn am Ende keine Absprache mit Deutschland getroffen wird.


Zäune reichen nicht aus

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist derzeit bei ihrer Suche nach einer europäischen Lösung weniger isoliert, als manche es glauben machen wollen. So unterstützt beispielsweise Bulgarien Berlin mit einem länderübergreifenden Lösungsvorschlag. Das Balkanland, das im Süden an Griechenland grenzt, ist in einer besonders fragilen Situation. Daher plädiert Sofia wie Berlin für einen EU-Plan.
Dagegen möchte Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán Europas Zerfallsprozess beschleunigen. Mit einem Referendum soll die Bevölkerung entscheiden, ob sie will, „dass die EU ohne Zustimmung des ungarischen Parlaments die verpflichtende Ansiedlung von nicht-ungarischen Bürger in Ungarn anordnet“.

Der rechtspopulistische Premier hat offenbar vergessen, welche Verträge Ungarn beim Beitritt zur Europäischen Union unterzeichnet hat. Es gibt kein Europa à la carte, wo europaweite Entscheidungen je nach Gusto ausgesucht werden können. Ohnehin hätte ein solches Referendum keine rechtliche Bindung. Doch darum geht es Orbán auch gar nicht. Er will mit dem Referendum als Schaufensterveranstaltung von innenpolitischen Problemen ablenken. Und das hat in der Vergangenheit beim Volkstribun ganz gut funktioniert.
Es ist eine große Illusion, wenn noch immer manche Länder im Osten Europas glauben, das Flüchtlingsproblem ginge sie nicht an und sie könnten einseitige Lösungen ohne Griechenland und Deutschland zimmern. Zäune bauen, Migranten abwehren oder die Flüchtlinge nach Deutschland oder Schweden durchwinken – das kann auf Dauer nicht funktionieren. Diese Erkenntnis wird spätestens dann einsetzen, wenn Deutschland tatsächlich seine Grenze dicht machen sollte. Denn dann wird der Rückstau alle diejenigen treffen, welche heute die Suche nach einer europäischen Lösung unter Einbeziehung der Türkei so erschweren.

© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%