Kemal Kilicdaroglu Warum der türkische Oppositionschef auf die Straße geht

Ein Urteil gegen einen Abgeordneten der größten türkischen Oppositionspartei sorgt für Empörung. Nun hat der CHP-Chef einen Protestmarsch gestartet. Die Reaktionen aus Ankara zeigen: Er ist die letzte Gefahr für Erdogan.

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Kilicdaroglu will sich nicht als Parteichef in Szene setzen, sondern als letzter Freiheitskämpfer des Landes. Quelle: Reuters

Istanbul Kemal Kilicdaroglu hat eine klare Botschaft. „Wir sagen, es reicht. Deswegen beginnen wir diesen Marsch“, sagte der Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP am 15. Juni. „Wir wollen nicht in einem Land leben, wo es keine Gerechtigkeit gibt.“ Aus Empörung über die Verurteilung des Oppositionsabgeordneten Enis Berberoglu haben Anhänger der CHP in Ankara einen Protestmarsch gestartet. Die Demonstranten, angeführt vom 68-jährigen Parteichef Kilicdaroglu, wollen bis in die rund 450 Kilometer entfernte Metropole Istanbul laufen, kündigte der CHP-Vorsitzende an. Der Marsch soll im Istanbuler Bezirk Maltepe enden, wo Berberoglu im Gefängnis sitzt.

Der CHP-Abgeordnete Berberoglu war am Mittwoch in Istanbul wegen Geheimnisverrats zu 25 Jahren Haft verurteilt worden. Er ist der erste Politiker der größten türkischen Oppositionspartei, der ins Gefängnis muss. An diesem Montag verwehrte ein türkisches Gericht ein Berufungsersuch Berberoglus.

Der 60-jährige Verurteilte war von 2009 bis 2014 Chefredakteur der Tageszeitung Hürriyet. Er wird beschuldigt, geheime Informationen, die türkische Waffenlieferungen an Islamisten in Syrien belegen sollen, an eine andere türkische Tageszeitung, Cumhuriyet, weitergegeben zu haben. Über diese Waffenlieferungen hatte die Zeitung im Juni 2015 berichtet. Der ehemalige Cumhuriyet-Chefredakteur Can Dündar und der Hauptstadtbüroleiter der Zeitung, Erdem Gül, waren für die Veröffentlichung wegen Geheimnisverrats zu mehreren Jahren Haft verurteilt worden. Dündar lebt inzwischen im Exil in Deutschland. In der Türkei sind derzeit 177 Journalisten im Gefängnis. Kilicdaroglu nannte das Urteil gegen Berberoglu ungerecht und erklärte, die Justiz werde von der Regierung beeinflusst.

Über seinen Protestmarsch wird seit dem Start am 15. Juni intensiv in türkischen Medien berichtet. Selbst die regierungsnahe türkische Tageszeitung Sabah bescheinigt Kilicdaroglu ein politisches Gespür für die Aktion. „Wenn er den Marsch erfolgreich beendet, kann er ein ernstzunehmenden Kandidaten für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2019 darstellen“, erklärt etwa Serdar Karagöz, der Chefredakteur der englischsprachigen Ausgabe der Zeitung.

Und auch bei einer anderen Gruppe kommt der Protestmarsch an: bei der Regierung in Ankara. Allerdings nicht im positiven Sinne.

In der AKP-geführten türkischen Führung gab man sich nach einem gewonnenen Verfassungsreferendum siegessicher für die folgenden Wahlkämpfe. Staatschef Recep Tayyip Erdogan, der nach der Volksabstimmung seine Macht weiter ausbauen kann, gab unmittelbar danach an, dass eine echte Opposition im Land nicht mehr existiere. Ziel für die AKP sei laut Erdogan nun, bei künftigen Wahlen „50 Prozent plus eine Stimme“ zu erhalten, um die Parteipolitik in Zukunft fortsetzen zu können.

Ein öffentlichkeitswirksamer Protestmarsch der größten Oppositionspartei kommt da weniger zupass. Und so halten sich führende AKP-Politiker auch nicht damit zurück, Kilicdaroglu offen zu kritisieren und sogar zu kriminalisieren.

Justizminister Bekir Bozdag hatte bereits am Freitag erklärt, Kilocdaroglu begehe ein Verbrechen, indem er Mitglieder der Justiz diffamiere und bedrohe. Bozdag verwies darauf, dass der verurteilte CHP-Politiker Berberoglu Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen könne. Der türkische Ministerpräsident Binali Yildirim sagte mit leicht ironischem Unterton, Kilidaroglu müsse „im heiligen Monat Ramadan, in dieser Hitze, nicht laufen, er kann den Hochgeschwindigkeitszug nehmen“. Nach einer Lösung könne im Parlament und vor Gericht gesucht werden. „Man kann nicht Gerechtigkeit auf der Straße suchen, und die Türkei ist ein Rechtsstaat“, fügte Yildirim hinzu.

Der Vorsitzende der rechtsnationalen Oppositionspartei MHP Deniz Bahceli erklärte, ihn erinnere der Protestmarsch „an Anarchie“ und an die Vorgehensweise der Gülen-Bewegung, die in weiten Teilen der türkischen Gesellschaft für den vereitelten Putschversuch vom vergangenen Juli verantwortlich gemacht wird.


„Welchen Unterschied macht es zu den Putschisten?“

Staatschef Erdogan geht sogar noch einen Schritt weiter. Auf einer Veranstaltung der türkischen Exportvereinigung TIM erklärte Erdogan am Wochenende, er könne sich rechtliche Schritte gegen den Protestmarsch vorstellen. Der Staatspräsident brachte Kilicdaroglus Wanderung nach Istanbul ebenfalls mit dem Vorgehen der Putschisten vom Juli vergangenen Jahres in Verbindung. „Welchen Unterschied macht es zu den Putschisten vom 15. Juli, wenn nun wieder Straßen blockiert werden?“, fragte Erdogan.

Die heftigen Reaktionen der AKP auf Kilicdaroglus Protestmarsch zeigen: Der CHP-Chef ist die letzte Gefahr für den Machtpolitiker Erdogan und die Regierungspartei AKP. Der Oppositionschef ist der einzige außerhalb der AKP, dem in einem wahrnehmbaren Teil der Bevölkerung Anerkennung entgegengebracht wird. Das liegt zum Teil daran, dass die anderen verbliebenen Oppositionsparteien, wie etwa die prokurdische HDP, Stück für Stück ausgelöscht wird oder, wie die rechtsnationale MHP, mit der AKP kokettiert, um ein wenig vom Ruhm einer Regierungspartei abzubekommen.

Kilicdaroglus Respekt im oppositionellen Teil der Bevölkerung speist sich aber auch aus der Tatsache, dass der 68-Jährige kein Blatt vor den Mund nimmt und die Regierung sowie St#aatschef Erdogan bei jeder Gelegenheit kritisiert. „Wir erleben gerade einen Prozess, in dem die Demokratie in der Schwebe hängt“, sagte Kilicdaroglu etwa Anfang Juni bei einem Besuch im Hauptquartier der zweitgrößten Oppositionspartei HDP. „Wenn sich die Türkei heute in ein halboffenes Gefängnis verwandelt hat und wenn die Türkei heute mit Notstandsdekreten regiert wird, dann kann in der Türkei keine Rede von Demokratie sein“, sagte der CHP-Politiker bei dem Besuch in die Kameras. Das trauen sich nicht mehr viele auszudrücken.

Damit spricht Kilicdaroglu offen aus, was knapp die Hälfte der Türkinnen und Türken denkt, die gegen die Politik der AKP ist und etwa beim Verfassungsreferendum mit „Nein“ gestimmt hat. Kilicdaroglu hat sich damit zum Gewissen all derjenigen gemacht, die sich nicht mehr trauen, auf die Straße zu gehen und zu protestieren oder ihrer Wut öffentlich Ausdruck zu verleihen.

Bezeichnend ist, dass Kilicdaroglu bei seinem Protestmarsch lediglich ein Schild mit dem Wort „Adalet“ – auf deutsch „Gerechtigkeit“ – hochhält. Ein Logo seiner Partei CHP sucht man hingegen vergebens. Kilicdaroglu will sich nicht als Parteichef in Szene setzen, sondern als letzter Freiheitskämpfer des Landes.

In der Woche vor seinem Protestmarsch soll sich Kilicdaroglu mit den Chefs anderer Oppositionsparteien getroffen haben, darunter mit der nationalistischen Vaterlandspartei VP, der Demokratischen Partei DP und der konservativen Glückseligkeitspartei SP. „Das ist kein Parteimarsch“, gibt er so auch an und fügt hinzu, „jeder der Gerechtigkeit fordert, kann teilnehmen“.

Dabei waren es Abgeordnete seiner eigenen Partei, die den Weg für eine Aufhebung der Immunität von Parlamentariern wie dem nun inhaftierten Berberoglu freigemacht haben. Im Mai 2016 nahm das Parlament einen Gesetzesvorschlag der AKP-Fraktion an, jenen Abgeordneten die Immunität zu entziehen, denen einen Anklage drohen könnte. Mehr als 20 CHP-Parlamentarier sollen damals für den Vorschlag gestimmt haben. Nur so konnte der Prozess gegen Berberoglu beginnen, der mit einer 25-jährigen Haftstrafe für den CHP-Mann endete.

Bei der Abstimmung um die Aufhebung der Immunität für Abgeordnete haben viele protestiert, die Partei würde keine effektive Opposition gegen die AKP und Staatschef Erdogan darstellen. Es ist nicht das erste Mal, dass Kilicdaroglu in die Schusslinie der eigenen Partei geraten ist. Seit seiner Amtsübernahme hat die Partei keinen nennenswerten Erfolg gefeiert. Auch in früheren Debatten im türkischen Parlament zwischen Kilicdaroglu und dem damaligen Ministerpräsidenten Erdogan gab der CHP-Chef keine gute Figur ab. Es gilt als offenes Geheimnis, dass sich zahlreiche Parteimitglieder den Ex-Chef der Partei, Deniz Baykal, zurückwünschen.

Kilicdaroglu dürfte die fortschreitende Kritik als Warnung verstanden haben – eine Warnung vor allem an sein eigenes politisches Überleben. Auch so lässt sich der Protestmarsch, den man sonst eher bei Aktivisten und Privatpersonen vermuten würde, erklären. „Wir werden unseren Marsch fortsetzen, bis wieder Recht in unser Land einkehrt“, sagte Kilicdaroglu vor seinem Aufbruch selbstbewusst. Er weiß, dass er daran gemessen werden wird.

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