Risiko Russland „Absteigende Mächte sind häufig die gefährlichsten“

Russische Panzer. Quelle: dpa/picture-alliance

Die Kriegsgefahr an der russisch-ukrainischen Grenze wächst. Was treibt den russischen Präsidenten Putin an – und wie sollte der Westen auf eine militärische Eskalation reagieren? Am besten mit wirtschaftlich einschneidenden Sanktionen. Ein Gastbeitrag.

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Anders Åslund, 69, ist Senior Fellow beim Stockholm Free World Forum, einer außenpolitischen Denkfabrik in Schweden. Der Ökonom und Osteuropaexperte hat zudem einen Lehrauftrag an der Georgetown University in Washington. In früheren Zeiten war er unter anderem Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten Boris Jelzin und des ukrainischen Präsidenten Leonid Kutschma.

Kein Frage: Das heutige Russland ist eine Gefahr für den Weltfrieden. Im Juli hat Präsident Wladimir Putin einen langen Artikel unter dem Titel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ veröffentlicht. Dort spricht er der Ukraine letztlich die Legitimität als unabhängiger Nationalstaat ab. Außerdem ordnete er entlang der ukrainischen Grenze eine massive militärische Mobilisierung an – zuerst im April, dann noch intensiver in den vergangenen Wochen. Führende ukrainische und US-amerikanische Politiker, darunter auch Präsident Joe Biden, warnen, Russland könne Anfang 2022 einen Bodenkrieg gegen die Ukraine führen.

Will Putin tatsächlich die Ukraine angreifen? Und wenn ja, wie sollten sie und der Westen darauf reagieren? Für die russische Aggressivität mag es viele Gründe geben, aber der wichtigste könnte der Abstieg des Landes sein. Seit 2009 wächst die Wirtschaft kaum noch, seit 2014 stagniert sie völlig. Putin hat offensichtlich kein Interesse daran, für Wirtschaftswachstum zu sorgen oder den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. In US-Dollar ausgedrückt fiel Russlands Bruttoinlandsprodukt von 2,3 Billionen Dollar im Jahr 2013 auf 1,5 Billionen 2020. Seit Putin 2014 in die Ukraine einmarschiert ist und illegal die Krim besetzt hat, ist das real verfügbare (inflationsbereinigte) Einkommen der russischen Haushalte um zehn Prozent gesunken.

Da er über die Wirtschaftslage nichts Gutes vermelden kann, betont Putin die umfangreichen internationalen Währungsreserven und die geringen Staatsschulden seines Landes. Diese Statistiken scheinen sein Ziel der nationalen „Größe“ zu bestätigen, das zum Leitbild der autoritären Regierung geworden ist. Mithin scheint Putin eine Art modernes Sparta anzustreben – ein Staat, der sich ausschließlich auf seine militärische Stärke verlässt. Seit dem russischen Angriff auf Georgien 2008, der große militärische Schwächen sichtbar machte, hat der Kreml sein Militär erheblich modernisiert, während große Teile des restlichen Europas die nach dem Ende des Kalten Krieges begonnene Abrüstung fortgesetzt haben.

Gleichwohl könnte die relative militärische Macht Russlands ihren Höhepunkt bereits überschritten haben. Laut dem Internationalen Friedensforschungsinstitut in Stockholm lagen die russischen Militärausgaben 2020 bei 62 Milliarden Dollar – verglichen mit 778 Milliarden in den USA und 252 Milliarden in China. Sogar das indische Militärbudget lag mit 73 Milliarden Dollar höher als das russische.

Nun scheint Putin zu glauben, wenn Russland von seiner militärische Stärke profitieren wolle, müsse es das schnell tun – bevor sich die wirtschaftliche Grundlage des Landes weiter auflöst. Darüber hinaus hat der aktuelle Rohstoffboom, insbesondere bei Metallen und Energieträgern, den Anreiz für den Kreml gestärkt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist.



Absteigende Mächte sind häufig die gefährlichsten. Graham Allison von der Harvard University erinnert uns in Destined for War daran, dass es Österreich-Ungarn, also eine absteigende Großmacht war, die durch ihre Kriegserklärung an Serbien den Ersten Weltkrieg begann.
Und aus dem Jahr 1904 ist ein Satz des damaligen russischen Innenministers Wjatscheslaw von Plehwe überliefert, der befand: „Um eine Revolution zu verhindern, brauchen wir einen kleinen, siegreichen Krieg!“

Allerdings wurde Plehwe bald darauf von einem Revolutionär ermordet. Und der folgende russisch-japanische Krieg von 1904/1905 war dann auch weder klein noch siegreich – sondern führte mit dazu, dass es 1905 zur Revolution in Russland kam.

Wahrscheinlich hat Putin also eher seine eigenen kleinen (und erfolgreichen) Kriege in Georgien von 2008 und der Krim von 2014 vor Augen, nach denen er in Russland die höchsten Zustimmungsraten seiner Amtszeit für sich verzeichnen konnte. Seitdem aber erreicht seine Zustimmung im Volk neue Tiefststände. Im Zuge dieser öffentlichen Unzufriedenheit hat Putin die politische Repression auf ein Niveau erhöht, das es seit der Amtszeit des ehemaligen Sowjetführers Juri Andropow (1982-84) nicht mehr gegeben hat.

von Maxim Kireev, Silke Wettach, Lukas Zdrzalek

Um die immer extremere Unterdrückung zu rechtfertigen, hat Putin auch die Propagandamaschinerie des Kreml auf Sowjetniveau aufgerüstet. Die Frage ist nur, ob antiwestliche Botschaften die Bevölkerung dazu bringen, ihren Präsidenten zu unterstützen. Dazu würde er einen weiteren sehr erfolgreichen Krieg benötigen. Da Russland keine Chance hat, einen großen Krieg gegen den gesamten Westen zu gewinnen, wäre ein begrenzterer Konflikt erforderlich. Also fällt Putins Blick auf die Ukraine, die er einen westlichen Vasallen nennt.

US-Geheimdienste warnen, Russland habe nahe seiner Grenze zur Ukraine etwa 175.000 Soldaten stationiert. Aber wäre eine Streitmacht dieser Größe ausreichend? Die aktive Truppenstärke der Ukraine beträgt 250.000 Soldaten, die über reichlich Kampferfahrung verfügen und ihr Heimatland gegen Soldaten verteidigen würden, die vielleicht kein höheres Ziel haben, als ihren Sold zu bekommen.

Russlands Fehler im Jahr 1904 war, dass es Japan als Militärmacht nicht ernst nahm. Dass Japan den Sieg davontrug, schwächte die Macht des Zaren erheblich und ermöglichte die darauf folgende Revolution. Ein russisch-ukrainischer Krieg von 2022 könnte sich als noch größerer Fehler herausstellen, den Putin wahrscheinlich politisch nicht überleben würde.

In keinem Fall darf der Kreml die Möglichkeit bekommen, von seinem Säbelrasseln innenpolitisch zu profitieren. Auf Putins bisherige Aggressionen gegen Georgien und die Ukraine antwortete der Westen lediglich mit begrenzten Sanktionen. Er muss aus diesen Fehlern lernen und sich voll hinter die Ukraine stellen. Der Westen sollte das Land nicht nur mit militärischer Ausrüstung und Ausbildung unterstützen, sondern auch wirklich schmerzhafte Sanktionen gegen Russland verhängen. Joe Biden und US-Außenminister Antony Blinken haben dies bereits versprochen. Sie und die europäischen Verbündeten Amerikas müssen das Versprechen nun erfüllen.

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