Auf diese Frage hat derzeit jeder Tokioter eine schnelle Antwort: Woran erkennt man chinesische Touristen? „Sie sind laut“, „Sie rempeln dich in der U-Bahn an“ oder „Sie transportieren Reiskocher“. Die in ihrer Zufälligkeit typischen Antworten zeigen: Das Image der Chinesen ist durchwachsen. Und: Jeder Tokioter hat schon einen gesehen.
Was für die Bewohner von Paris und Rom Alltag ist, für Tokio, diese vielleicht homogenste Metropole der Welt, ist es ein neues Gefühl. Ausländische Touristen, wohin man schaut. Die Besucherschlange am Kaiserpalast war schon immer lang, jetzt brauchen sie selbst mitten im Winter zusätzliche Polizisten, um die nicht im Detail mit den japanischen Anstehtechniken vertrauten Fremden in die korrekten Bahnen zu lenken.
Hokkaido
2008 entstand auf der nordjapanischen Insel Hokkaido der Film „If you are the one“. In China wurde er zum Kassenhit – und Hokkaido erlebte, was Neuseeland nachdem „Herr der Ringe“- Erfolg widerfuhr. Von einem aufs andere Jahr verzwanzigfachte sich die Zahl chinesischer Besucher. Der Boom hält bis heute an.
Tourismus war für die japanische Wirtschaft jahrzehntelang ein Randgeschäft, bis vor Kurzem dümpelte die jährliche Besucherzahl bei rund zehn Millionen Menschen – so viele Ausländer besuchen Paris in drei Monaten. Reichlich optimistisch schien daher auch das vor zwei Jahren ausgerufene Ziel für die Olympischen Spiele in Tokio 2020. Jährlich 20 Millionen Besucher sollten dann ins Land kommen, hatte die konservative Regierung von Ministerpräsident Shinzo Abe ausgegeben, und jetzt sagt Akio Okawara, Chef des japanischen Zentrums für internationale Beziehungen: „Wir haben die Marke schon 2015 nur haarscharf verfehlt und dürften das Ziel 2016 erreichen.“ Vier Jahre früher als erhofft. Was passiert da in diesem sonst so stagnierenden Land?
Was die ungepflegten Gladiatorenimitatoren vor dem Kolloseum für Rom sind, sind gelbe Doppeldeckerbusse für Tokio: Symbol des Tourismus. „Hato Bus“ steht drauf, Hato heißt Taube, und das ist als Symbol zu verstehen: Als die Busse 1948 ihren staatlich geförderten Dienst aufnahmen, sollte das der Welt die Friedfertigkeit Japans beweisen. Die Nation der Kriegstreiber, deren Ruf in Asien so verheerend war wie der Deutschlands in Europa, wollte sich öffnen, fremde Besucher willkommen heißen.
Doch während die Exportwirtschaft bald boomte, japanische Produkte ihren Weg in Haushalte auf allen Kontinenten fanden und japanische Geschäftsleute und Touristen ihnen nachreisten, blieb man zu Hause unter sich. Der Ausländeranteil beträgt zwei Prozent, 2014 hatte gerade ein Dutzend Asylanträge in dem Land mit seinen 125 Millionen Einwohnern Erfolg.
Wenn sich das jetzt ändert, ist ausgerechnet der einstige Erzfeind schuld. An Bord der Hato Busse sind zwar 90 Prozent Japaner, doch die Zahl der Buchungen von chinesischen Kunden steige sprungartig, berichtet der Betreiber, allein um 77 Prozent im vergangenen Jahr. Von den 19 Millionen Touristen in Japan kamen 2015 gut 4 Millionen aus China.
Auf den ersten Blick hat der Boom einfache Gründe: Der Wechselkurs macht dank der Abwertungspolitik der japanischen Notenbank Reisen nach Japan so günstig wie nie, die generelle Mehrwertsteuerbefreiung für Touristen liefert einen zusätzlichen Anreiz. Viele japanische Produkte wie Reiskocher genießen in China ohnehin einen guten Ruf, gelten als hochwertig und langlebig. Spannender aber sind die Wechselwirkungen zwischen Politik und Tourismus.
Rückwirkungen auf die Politik
„Viele Japaner wissen gar nicht, wie schlecht das Bild unseres Landes in China lange Zeit war“, sagt Masaki Hirata. Der Vorstand der nationalen Tourismusorganisation kann sich die Jubelmeldungen dieser Tage allesamt selbst ans Revers heften. Bis vor Kurzem hatte er einen ungleich undankbareren Job: Als Vertreter der Tourismusbehörde sollte er von Shanghai aus Chinesen die Reise nach Japan schmackhaft machen. „In chinesischen Filmen gilt bis heute: Der Bösewicht muss ein Japaner sein“, erzählt Hirata. In der Gesellschaft aber habe sich dieses Bild in den vergangenen Jahren immer mehr von den Ansagen der Partei entfernt: „Gerade Chinesen, die auf eigene Faust nach Japan reisen, kommen mit einem persönlichen, sehr positiven Bild zurück, das sie auch weitergeben.“
So benehmen Sie sich in Japan richtig
Japaner entspannen nach Verhandlungen gerne in Bädern. Selbst wer vorher geduscht hat, muss sich – für alle sichtbar – gründlich abseifen.
Umarmen, Schulterklopfen, Händeschütteln sind außer bei Trinkgelagen unüblich. Man hält Distanz. Wer in diese Distanzzonen eindringt, löst tiefes Unbehagen aus.
Werden nicht in geschäftliche Dinge einbezogen. Dennoch erwarten Japaner, dass der Gast abends ausgeht – je nach Spesenkonto gar zum Geisha-Abend. Im japanischen Geschäftsleben werden privaten und dienstlichen Interessen niemals der gleiche Wert eingeräumt – Job geht vor.
Nie ein Messer, eine Schere oder einen Brieföffner verschenken – Signal für eine Trennung! Abbildungen von Füchsen oder Dachsen gelten als anzüglich. Sie symbolisieren Fruchtbarkeit beziehungsweise Hinterhältigkeit. Präsente werden mit der Formel „Es ist zwar wertlos, nehmen Sie es aber bitte trotzdem an!“ überreicht. Der Beschenkte legt das Mitbringsel ungeöffnet beiseite – alles andere zeugt von Habgier.
Wird oft nach Mahlzeiten gereicht und pur getrunken. Bitte keine Milch oder Zucker hineingeben! Kleinere Teeblätter am Schalengrund sind normal. Ein aufrecht stehendes Teeblatt gilt als Glücksbote. Zeigen Sie, dass Sie es bemerkt haben!
Streiten Sie nie! Japaner lehnen offene Konflikte ab. Unterdrücken Sie persönliche Gefühle; unfein ist, sie auszusprechen oder sie sich anmerken zu lassen.
Angemessene Respektbezeugungen sind so bedeutungsvoll, dass zwei Japaner schwer miteinander umgehen können, solange die Rangfolge ungeklärt ist. Auch dazu dienen Geschäftskarten: Je weniger Titel auf der Karte stehen, desto höher der Mann. Wenn nur der Name aufgedruckt ist, sollte man ihn kennen.
Die Einladung in eine Karaoke-Bar darf man nicht absagen. Punkte sammelt, wer deutsche Volkslieder trällern kann. Wem das zu peinlich ist, sollte eine Ersatzshow bieten: Trommeln oder Zungenbrecher vom Typ „Fischers Fritze“.
Faustregel: teures Tuch, dezentes Design, Damen wie Herren. Japaner achten enorm auf Qualität. Schludrige Kleidung wird schnell als Nichtachtung ausgelegt. Auch auf Socken achten! Vor allem beim Sitzen auf Tatami-Matten, bei dem die Schuhe ausgezogen werden.
Mit „Ihre Präsentation war super!“ stürzen sie Japaner in Sinnkrisen. Das wird als Ausrede missverstanden. Wer loben will, verweist auf eigene Schwächen statt auf Großtaten des anderen. Ideales Kompliment ist es, den anderen um Rat zu fragen.
Gute Hotels sind in Japan teuer, signalisieren aber, dass Sie solvent sind, ähnlich prestigeträchtig sind Flug- oder Zugklassen. Gespart wird in Japan intern und für Außenstehende unmerklich. Wer sich gar einen Mietwagen mit Fahrer leistet, beweist professionelle Noblesse.
Wenn Sie nicht wollen, dass Japaner bezahlen, müssen Sie das dem Kellner sagen, sonst geht die Rechnung an den Einheimischen. Der würde sie nie weiterreichen, auch nicht öffentlich prüfen. Es ist unfein, sich mit Gelddingen zu befassen.
Japan war lange Zeit ein armes Land, Reis das „tägliche Brot“. Zollen Sie ihm deshalb Respekt, indem Sie Ihre Portion bis auf einen Anstandsrest aufessen.
Sie ist streng und zu beachten: Der Gast, dem die größte Ehre gebührt, wird so weit wie möglich von der Tür weg platziert. Wird auf Tatami-Matten gesessen, ist der Schneidersitz angebracht. Hinfläzen wäre vulgär.
Wer damit umgehen kann, genießt Hochachtung. Falsch ist, die Stäbchen durch Stoßen auf den Tisch wieder gerade zu rücken. Ganz tabu: mit dem Essgerät herumfuchteln oder im Essen herumrühren.
Regel 1: Fassen Sie keine Tür an! Die hinteren Türen werden vom Fahrer mechanisch geöffnet.
Regel 2: Taxifahrer sprechen selten Englisch. Deshalb vom Hotel oder Betreuer auf Japanisch aufschreiben lassen, wohin man will.
Japaner lächeln beim Telefonieren oder verbeugen sich dabei. Sie glauben, der andere hört diese Ehrerbietung. Deshalb: Lassen Sie den anderen zuerst auflegen. Alles andere wäre ungezogen.
Einsames Trinken ist verpönt. Selbst zu fortgeschrittener Stunde nie selbst das Glas füllen! Stattdessen schenkt man sich gegenseitig nach. Sakeschalen werden vorher leergetrunken. Trunkenheit wird in Japan eine einzigartige Toleranz entgegengebracht: Nur in diesem Zustand darf man ungestraft seine Meinung sagen.
Sagt viel über den Status einer Person. Wer sich tiefer und länger verbeugt, zeigt Respekt. Nehmen Sie das Ritual hin, aber machen Sie nicht mit, da Sie die Regeln nicht kennen. Ein freundliches Kopfnicken reicht völlig.
Nie aus der Gesäß- oder Hosentasche nesteln, sondern aus einem respektablen Etui nehmen, das im Jackett steckt. Schon die Marke der Lederhülle sagt etwas über den Besitzer. Teilen Sie die Visitenkarte nie aus wie Pokerkarten, sondern überreichen Sie die Karte sorgsam mit der rechten Hand, besser mit beiden Händen! Das Ritual, sich über die Aussprache der Schriftzeichen und deren Bedeutung zu verständigen, erwartet zwar niemand – aber es beweist Kulturverständnis.
In Zahlen spiegelte sich das lange Zeit nur bedingt. Denn die Masse der Chinesen kommt bis heute mit zentral organisierten Schiffstouren nach Japan, das ist die günstigste Art zu reisen. Der geschäftliche Erfolg der Reiseveranstalter wiederum hängt vom Wohlwollen der Partei ab. Wenn das politische Klima sich verschlechtert, so wie zuletzt 2013, als Japans Premier Shinzo Abe den umstrittenen Yasukuni-Schrein besuchte, nehmen viele Veranstalter Japan-Reisen aus dem Programm, um ihren Ruf nicht zu gefährden.
Doch der Anteil individueller Reisen wächst, günstige Urlaubsairlines bieten Direktflüge in viele chinesische Städte jenseits der Küstenregion. „So eine Route gibt kein Unternehmen von heute auf morgen wieder auf, wenn es zu einer kleinen diplomatischen Krise kommt“, sagt Okawara, dessen Institut sich seit Jahren um den Austausch zwischen Japan und China auch auf zivilgesellschaftlicher Ebene bemüht. „Der Tourismus wird keinen echten Konflikt verhindern, aber er sorgt dafür, dass sich die Menschen aus Japan und China verständnisvoller begegnen“, sagt Okawara.
Zudem vertieft er die wirtschaftlichen Abhängigkeiten – mit Rückwirkungen auf die Politik. Gerade wird in Japan über den Neubau eines Stützpunkts der amerikanischen Armee auf der Insel Okinawa diskutiert. Die Wirtschaft auf der Insel war wegen der erwarteten Aufträge zunächst glühend dafür. Jetzt aber dreht sich die Stimmung, man fürchtet um die Attraktivität der Insel für chinesische Touristen.