Nicht nur Erdogans Gegner können sich wundern: Über Youtube kann man seit Wochen Mitschnitte von Telefonaten hören, die den türkischen Ministerpräsidenten als korrupten Geldwäscher entlarven, sofern sie denn echt sind. Auf Facebook wimmelt es von Links auf diese Dateien, und oppositionelle Journalisten und Blogger haben Facebook überdies zum wichtigsten Medium der Erdogan-Gegner gemacht, deren Zeitungen außerhalb der großen Städte kaum gelesen werden. Youtube und Facebook sind auch in der Türkei noch legal und gut zu nutzen. Twitter ist Donnerstagabend vom Büro des Oberstaatsanwalts in Istanbul für illegal erklärt worden, weil der Dienst vier türkische Gerichtsurteile zur Sperrung einzelner politischer Tweets missachtet habe. Auf das skandalöse Internetkontrollgesetz vom vorigen Monat, das der türkischen Regierung die Blockade missliebiger Internetdienste ganz grundsätzlich erlaubt, nahm der Staatsanwalt keinen Bezug. Was in Sachen Internet heute Recht und Unrecht ist in der Türkei, wissen offenbar auch die maßgeblichen Juristen nicht so genau. Wahrscheinlich entscheidet schlicht und ergreifend das Wort des Ministerpräsidenten.
Doch dieses Wort ist unklar. Recep Tayyip Erdogan hielt zeitgleich mit der staatsanwaltlichen Verlautbarung eine große Wahlkampfrede – die Türken wählen Ende des Monats im ganzen Land neue Bürgermeister und Kommunalparlamente. „Wir werden Mwitter ausrotten“, hat Erdogan verkündet – „ausrotten“ hat er wirklich gesagt, und es hat sich auch kein Tippfehler in unsere deutsche Übersetzung eingeschlichen. Verballhornung von Wörtern mit einem „m“ am Wortanfang – das meint in der türkischen Alltagssprache, dass der Sprecher von der so bezeichneten Sache wenig hält oder auch selber findet, dass der Begriff nicht genau das trifft, was er meint.
Also hat Erdogan sinngemäß etwa von „diesem ganzen Twitterkram“ gesprochen oder von „Twitter und solchem Zeug“. Das mag heißen, dass Youtube und Facebook als nächste dran sind – oder auch, dass Erdogan selber einräumt, dass er keinen Durchblick hat. Was für jemanden wie die deutsche Regierungschefin vor kurzem noch „Neuland“ war, ist für den türkischen Regierungschef offenbar die dunkle Seite des Mondes. Und von der, so sieht er das Universum, drohen dem glänzenden türkischen Halbmond entsetzliche Gefahren.
Was wirklich dahinter steckt: Schon im vergangenen Herbst haben Erdogans Intimfeinde aus der religiösen Bewegung des Predigers Fethullah Gülen Twitter für sich entdeckt. Aus dieser Ecke wird der türkisch-sprachige Cyberspace Tag für Tag mit Tausenden von Tweets überschüttet, die seit Aufdeckung der Korruptionsaffäre im Dezember voll sind von zutreffenden, spekulativen und unglaubwürdigen Vorwürfen gegen Erdogan und seine Parteigänger. 10 000 Pro-Gülen-Tweets pro Tag sind es inzwischen, schätzt die regierungskritische Tageszeitung „Radikal“.
Natürlich gibt es auch türkische Pro-Erdogan-Blogs im Netz, aber die Oppositionellen haben hier bis heute Oberwasser. Und wenn man der Online-Ausgabe der führenden Oppositionszeitung „Hürriyet“ glauben darf, überwiegen unter den vielen politischen Tweets und Facebook-Accounts in türkischer Sprache inzwischen automatisch generierte Einträge, die Massen von Bloggern und Usern vortäuschen, wo nur ein paar politische Strategen und etliche Wichtigtuer ihr Handwerk treiben.
"Roboter-Lobby"
Irgendjemand hat wohl versucht, das alles dem Ministerpräsidenten zu erklären. Und darum hetzt Erdogan seit einem Monat gegen die „Roboter-Lobby“, offenbar aus seiner Sicht der Dinge eine Bande von nicht-menschlichen Monstern, die ihm selber und der ganzen Türkei schaden wollen. Irgendwie sind die Monster mit den miserablen Typen von der „Verlierer-Lobby“ in einem Boot – das sind wirtschaftliche Versager, die aus Neid den wirtschaftlichen Erfolg des Landes umkippen lassen wollen – und gegen die „Zins-Lobby“, also böse Banker und Spekulanten, die von höheren Zinsen in der Türkei profitieren.
Im Wahlspot von Erdogans Partei für die Kommunalwahl werden diese Lobbyisten von einem schattenhaften schwarzen Mann verkörpert, der eine riesige türkische Fahne von ihrem Mast reißen will – worauf ein Riesenheer von Türken aus allen sozialen Schichten todesmutig den Mast hochklettert, die Fahne rettet und damit die Ehre der Türkei. Es ist zu befürchten, dass Erdogan die Welt so sieht wie in diesem Film.
Sein alter Kampfgenosse Abdullah Gül, Staatspräsident von Erdogans Gnaden, tut das nicht. In vorsichtiger Form hat der Präsident heute mitgeteilt, weltweite soziale Netze könne man einfach nicht von der Türkei fernhalten. Außerdem hofft Gül erklärtermaßen, die neue Bestimmung würde schon bald wieder aufgehoben. Vielleicht nach einer Bauchlandung Erdogans bei den Kommunalwahlen? Bisher gibt es in der Regierungspartei AKP keine innerparteiliche Opposition. Das könnte sich schnell ändern, wenn Erdogan in den Augen seiner Parteifreunde kein Garant für Wahlsiege mehr ist – und Abdullah Gül, dessen Amtszeit als Präsident dieses Jahr endet, wäre eine respektable Alternative an der Parteispitze.
Den merkwürdigen Fahnen-Wahlspot hat übrigens ein Gericht verboten, weil ein Gesetz den Gebrauch der Staatsflagge in türkischen Wahlkämpfen grundsätzlich verbietet. Wozu Erdogan in seiner „Mwitter“-rede mitteilte, er werde jetzt dieses Urteil verbieten. Sozusagen ein „Murteil“.