Für die Türkei ist es das denkbar schlechteste Ergebnis. Mit 51,8 Prozent der Stimmen hat das Ja-Lager um Präsident Recep Tayyip Erdogan die Abstimmung gewonnen. Ministerpräsident Binali Yildirim, dessen Amt es bald nicht mehr geben wird, erklärte um 21.30 Uhr Istanbuler Zeit den Sieg - noch bevor alle Stimmen ausgezählt waren.
Die beiden größten Oppositionsparteien, die CHP und die pro-kurdische HDP kündigten unterdessen an, das Ergebnis anzufechten. Unwahrscheinlich ist, dass sie damit Erfolg haben werden. Sicher aber ist: Die Spaltung des Landes in zwei sich gegenüber stehende Lager ist noch tiefer geworden.
Der für die Türkei historische Tag hat ruhig begonnen. Die Wahllokale in Istanbul öffneten um acht Uhr morgens in den Schulen der Stadt. Es kam hier weder zu Protesten noch zu Unruhen. Erst in der Nacht begannen die Anhänger Erdoğans auf die Straße zu gehen, und den Sieg des Evet-Lagers zu feiern.
Was bedeutet der Ausgang des Referendums für die EU und die Nato?
Nein, nicht automatisch. Denkbar ist zwar, dass das EU-Parlament mit einer Resolution den Abbruch der Gespräche fordert. Die zuständigen Regierungen der EU-Staaten müssen Forderungen des EU-Parlaments im Bereich der Außenpolitik allerdings nicht nachkommen.
Wenn sich alle 28 Mitgliedstaaten einig wären, wäre ein Abbruch möglich. Die EU-Kommission und auch die Bundesregierung waren bis zuletzt aber der Meinung, dass ein kompletter Wegfall der EU-Beitrittsperspektive dazu führen könnte, dass sich die Türkei noch stärker Russland zuwendet und keinerlei Bestrebungen mehr zeigt, sich bei Themen wie Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte an europäische Standards zu halten. Derzeit gibt es deswegen für die Beitrittsverhandlungen nur eine einziges K.o.-Kriterium: die von Erdogan erwogene Wiedereinführung der Todesstrafe.
Alternative zum vollständigen Abbruch der Beitrittsverhandlungen wäre es, die Gespräche offiziell auszusetzen. Dafür bräuchte es keine Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten. Es würde ausreichen, wenn 16 der insgesamt 28 Länder zustimmen, sofern diese Staaten mindestens 65 Prozent aller Bürger in der Union vertreten.
Zumindest am Rande. Die Türkei ist immer noch einer der wichtigsten Partner in dem Bereich - auch wenn nach Meinung vieler Experten vor allem die Grenzschließungen auf der Balkanroute zu dem Ende des großen Flüchtlingszustroms in Richtung Westeuropa geführt hat. Die Türkei beherbergt derzeit rund drei Millionen Menschen aus Ländern wie Syrien oder dem Irak.
Die EU könnte die im Rahmen der Beitrittsverhandlungen vorgesehene Unterstützung für die Türkei weiter zurückfahren oder verstärkt für Programme zur Verfügung zu stellen, die die Zivilgesellschaft und die Demokratie-Entwicklung stärken. Dabei geht es um rund 4,45 Milliarden Euro für den Zeitraum 2014 bis 2020.
In Brüssel wird das nicht für unmöglich gehalten. Die wüsten Beschimpfungen Erdogans gegen EU-Staaten könnten als unschönes Wahlkampfgepolter abgehakt werden. Wirklich bessere Beziehungen sind aber nur dann möglich, wenn die Türkei wieder anders mit Oppositionspolitikern und Journalisten umgeht. Das Vorgehen in den vergangenen Monaten wird als absolut inakzeptabel erachtet.
Die letzten Äußerungen waren widersprüchlich. Der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu kündigte Ende der vergangenen Woche an, er wolle nach dem Referendum einen Vorschlag vorlegen, um die festgefahrenen Verhandlungen über die Visa-Liberalisierungen zu beleben. In der EU wird mit Spannung erwartet, ob dies bedeutet, dass die Türkei doch bereit ist, über eine Reform ihrer umstrittenen Anti-Terrorgesetze nachzudenken, die nach Meinung von EU-Juristen zur Verfolgung politischer Gegner missbraucht werden können. Die EU hat eine Änderung der Anti-Terrorgesetze zu einer Bedingung für die Visa-Liberalisierung für türkische Staatsbürger gemacht.
Auf der anderen Seite sagte Präsident Erdogan, er wolle die künftigen Beziehungen der Türkei zu Europa nach dem Referendum überprüfen lassen. Unklar ist, ob er damit eine Volksabstimmung nach britischem Vorbild meint, bei der die Bürger der Türkei über eine Fortsetzung der Beitrittsgespräche mit der EU abstimmen könnten.
Für die Verteidigungsallianz ist es enorm wichtig, dass die Türkei ein verlässlicher Bündnispartner bleibt. Das Land an der Schnittstelle zwischen Europa, Asien und Nahost hat von den Mitgliedstaaten die zweitgrößte Armee, von Incirlik aus fliegen Alliierte Angriffe auf die Terrormiliz Islamischer Staat (IS), und im Südosten des Landes steht ein wichtiges Nato-Raketenabwehrradar. Wenn das „Ja“ beim Referendum zu mehr politischer Stabilität führt, kann das der Nato nutzen - aber nur dann, wenn es nicht zu einer dauerhaften Abkehr von rechtsstaatlichen Prinzipien kommt. Die jüngsten Entwicklungen wurden mit großer Sorge gesehen. Für Nato-Partner stellt sich die Frage, ob eine Demokratie à la Erdogan auf Dauer stabil sein kann.
Vielen aber dürfte der Schock, den das Ergebnis bedeutet, erst langsam bewusst werden. "Ich habe Angst um die Zukunft meiner Firma", sagt Leila Ata, eine Unternehmerin, die in Istanbul eine Personalagentur betreibt. Zu ihren Kunden gehören viele ausländische Unternehmen. Mit echtem Namen möchte sie nicht genannt werden. Sie hat mit Nein gestimmt. "Das Land droht in die Diktatur abzurutschen. Für die wirtschaftliche Entwicklung ist das nicht gut."
Auf Twitter sprachen noch in der Nacht viele davon, dass Atatürks Republik heute Nacht zu Grabe getragen wurde.
Gemäß der neuen Verfassung erhält der türkische Präsident einen kaum vergleichbaren Machtzuwachs. Das Amt des Ministerpräsidenten gibt es dann nicht mehr. Auch die ohnehin faktisch nicht mehr gegebene parteipolitische Neutralität des Präsidenten wird aufgehoben. Er ernennt die Kabinettsmitglieder. Der Präsident kann für maximal zwei Wahlperioden zu je fünf Jahren im Amt bleiben.
Befürworter der Verfassungsänderung vergleichen diese oft mit dem französischen und amerikanischen Präsidialsystem. Faktisch aber wird die Türkei eher dem Russland Putins gleichen. Denn im Gegensatz zum amerikanischen Kongress oder der französischen Nationalversammlung hat das Parlament kaum Befugnisse. Es hat keine Kontrolle über die Staatsausgaben und kann Anfragen an das Kabinett nur schriftlich stellen.
Denkwürdig ist auch der Einfluss des Präsidenten auf die Gerichtsbarkeit: Gemäß der neuen Verfassung kann der Präsident sechs der 13 Mitglieder des Hohen Rates der Richter und Staatsanwälte selbst bestimmen. Sieben weitere ernennt das Parlament, auf dessen Zusammensetzung er aber wiederum großen Einfluss hat. De facto verschwimmen die Grenzen zwischen Legislative, Judikative und Exekutive.
Weg zu wirklich demokratischen Reformen ist verschlossen
Erschwerend kommt hinzu, dass die Kontrollfunktion der Presse in den letzten Monaten systematisch verringert wurde. Kritische Medien gibt es nur noch wenige in der Türkei.
Bisher verliefen die vorangegangenen Wahlen fair. Wahlfälschungen waren kein großes Thema. Dieses Mal aber will die Opposition 37 Prozent der Stimmen anfechten, weil Wahlzettel nicht korrekt abgestempelt worden waren.
Was eindeutig nicht fair verlief, war der Wahlkampf. 90 Prozent der Fernsehsender machten Werbung für ein "Evet", also für ein Ja zum neuen System. Gegner des Referendums wurden in die Nähe von Terroristen gerückt. Fast die gesamte Parteispitze der prokurdischen HDP - entschiedene Gegner der Verfassungsänderung sitzt im Gefängnis. Außerdem ist es fraglich, ob eine solche Richtungsentscheidung überhaupt unter den Bedingungen des Ausnahmezustands stattfinden soll. Der gilt noch immer seit Juli vergangenen Jahres als Reaktion auf den Putschversuch.
Türkei: Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Staatschef Recep Tayyip Erdogan will ein Präsidialsystem in der Türkei einführen. Nachdem im Januar das Parlament die Vorschläge für die Verfassungsreform beschlossen hat, stimmte das Volk am 16. April in einem Referendum ab. Im Ausland lebende Türken konnten ihre Stimmen vom 27. März bis zum 9. April abgeben. Die wichtigsten geplanten Änderungen.
Der Präsident wird nicht nur Staats-, sondern auch Regierungschef. Das Amt des Ministerpräsidenten entfällt. Der Präsident darf künftig einer Partei angehören. Er wird nicht mehr vom Parlamentspräsidenten, sondern von einem Vizepräsidenten vertreten. Der Präsident ist für die Ernennung und Absetzung von einer von ihm selbst zu bestimmenden Zahl von Vizepräsidenten, von Ministern und von allen hochrangigen Staatsbeamten zuständig. Das Parlament hat kein Mitsprachrecht.
Der Präsident kann in Bereichen, die die Exekutive betreffen, Dekrete mit Gesetzeskraft erlassen, die mit Veröffentlichung im Amtsanzeiger in Kraft treten. Eine Zustimmung durch das Parlament ist nicht nötig. Dekrete werden unwirksam, falls das Parlament zum jeweiligen Bereich ein Gesetz verabschiedet. Gesetze darf (bis auf den Haushaltsentwurf) nur noch das Parlament einbringen.
Parlament und Präsident werden künftig am selben Tag für die Dauer von fünf Jahren vom Volk gewählt, und zwar erstmals am 3. November 2019. Die zeitgleiche Wahl erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die Partei des jeweiligen Präsidenten über eine Mehrheit im Parlament verfügt. Die Zahl der Abgeordneten steigt von 550 auf 600. Parlamentarische Anfragen gibt es nur noch schriftlich an die Vizepräsidenten und Minister.
Neuwahlen können sowohl das Parlament als auch der Präsident auslösen, im Parlament ist dafür eine Dreifünftel-Mehrheit notwendig. In beiden Fällen werden sowohl das Parlament als auch der Präsident zum gleichen Zeitpunkt neu gewählt - unabhängig davon, welche der beiden Seiten die Neuwahl veranlasst hat.
Die Amtszeiten des Präsidenten bleiben auf zwei beschränkt. Die Regierungspartei AKP hat aber eine Hintertür eingebaut: Sollte das Parlament in der zweiten Amtsperiode des Präsidenten Neuwahlen beschließen, kann der Präsident noch einmal kandidieren. Die Zählung der Amtszeiten würde unter dem neuen Präsidialsystem neu beginnen. Erdogan wäre also nach einem Wahlsieg 2019 in seiner ersten Amtsperiode. Mit der Hintertür (und bei entsprechenden Wahlerfolgen) könnte er theoretisch bis 2034 an der Macht bleiben.
Der Präsident bekommt mehr Einfluss auf die Justiz: Im Rat der Richter und Staatsanwälte kann der Präsident künftig vier der 13 Mitglieder bestimmen, das Parlament sieben weitere. Feste Mitglieder bleiben der Justizminister und sein Staatssekretär, die der Präsident auswählt. Bislang bestimmen Richter und Staatsanwälte die Mehrheit der derzeit noch 22 Mitglieder des Rates. Das Gremium ist unter anderem für die Ernennung von Richtern und Staatsanwälten zuständig. Gegen den Präsidenten kann nicht nur wie bislang wegen Hochverrats, sondern wegen aller Straftaten ermittelt werden. Allerdings ist eine Zweidrittelmehrheit aller Abgeordneten im Parlament notwendig, um eine entsprechende Untersuchung an die Justiz zu überweisen.
Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Denn kaum vorstellbar ist es, dass Erdogan ein Nein vorbehaltlos hätte akzeptieren können. In diesem Fall hätte es wahrscheinlich noch in diesem Jahr Neuwahlen gegeben. Erdoğans Position innerhalb der AKP wäre bedroht gewesen. Ein Nein aber hätte eben auch den Weg zu wirklichen demokratischen Reformen ebnen können.
Dieser Weg ist jetzt verschlossen. Das neue System wird erst 2019 in Kraft treten. Sollte Erdogan dann wieder die Wahlen gewinnen, könnte er maximal bis 2034 Präsident bleiben - in jedem Fall aber 2023 das hundertjährige Jubiläum der türkischen Staatsgründung feiern, und symbolisch mit Kemal Atatürk gleichziehen.
Für Unternehmen und Investoren sind beide Ergebnisse ambivalent. Marktbeobachter rechneten bei einem Ja mit einer stärkeren Lira, einem steigenden Aktienmarkt und Kapitalzuflüssen. Die Hoffnung vieler Investoren ist, dass Ruhe und Stabilität zurückkehren, und sich die Regierung wieder dem in den letzten Jahren eingeschlafenen Reformprozess widmen kann. "Für Investoren ist makroökonomische Stabilität am wichtigsten", sagt Johannes Zutt von der Weltbank in Ankara. Bis jetzt gebe es deswegen auch noch keine Anzeichen für eine Finanzkrise.
Langfristig aber ist auch viele Investoren bewusst, dass einer schwachen Demokratie beziehungsweise einer Diktatur nicht die Entwicklung zu einer innovationsgetriebenen Volkswirtschaft gelingen kann. Die Türkei droht dann, in der Middle-Income-Trap zu versacken. Nach dem Putschversuch vom 16. Juli 2016 und der darauffolgenden Hexenjagd auf vermeintliche Gülen-Anhänger hat sich die Atmosphäre an den Universitäten und Hochschulen massiv verschlechtert.
Ein Nein hätte zwar kurzfristig Instabilität und Unruhe bedeutet. Die Türkei wäre dann in den nächsten Monaten ein noch unberechenbarerer Standort. Langfristig aber könnte dies zu nachhaltigem Wachstum führen - vorausgesetzt die Türkei demokratisiert sich wieder.
Mit dem jetzigen knappen Ausgang und der Ankündigung der Opposition, das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen, ist sowohl die türkische Demokratie schwer beschädigt, als auch Unsicherheit und Proteste programmiert. Das Referendum hat die ohnehin schon tiefe Spaltung der türkischen Gesellschaft verschärft.