Wohin steuert Erdoğan? Der türkische Patient

Am Sonntag haben die Türken über die Änderung der Verfassung entschieden. Kritiker befürchten den Anfang einer schleichenden Diktatur. Wie steht es wirklich um die Demokratie in der Türkei und was könnten die Folgen des Referendums für uns bedeuten?

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Recep Tayyip Erdogan. Quelle: REUTERS

Heutzutage wird schnell geurteilt, wenn es um die Dinge geht, über die man gerade spricht. Trump ist gefährlich, die AfD populistisch und Erdoğan ein Despot. Aber kann man seine Vorbehalte wirklich mit Argumenten stützen und warum, wenn nicht, halten sich diese so lange? Liegt es vielleicht sogar im Interesse einer bestimmten Schicht von Meinungsmachern, diese aufrecht zu erhalten - und was bringt es, wenn man sich die Mühe macht, zu recherchieren, wie es wirklich um die Dinge steht?

Mittlerweile ist politische Berichterstattung ein schnelllebiges Geschäft, in dem es vor allem darum geht, möglichst prägnant und aufmerksamkeitswirksam seine Thesen auf den Punkt zu bringen. Meistens erreicht man damit diejenigen, um die es geht, an der Oberfläche ihres Interesses und genauso oft scheitern die wirklichen Aufgaben, die man hat, um eine gerechte und angemessene Debatte zu führen daran, dass die Aufmerksamkeitsspanne des internetverwöhnten Lesers nicht ausreicht, um in die Tiefe zu gehen.

Im Falle Recep Tayyip Erdoğans hat sich diese Tatsache zu einem Dilemma entwickelt, denn niemand ist mittlerweile wirklich dazu in der Lage, die Situation in der Türkei affektfrei zu beurteilen. Auf der einen Seite stehen seine fanatisierten Anhänger, die jede Kritik als Angriff auf ihren vaterländischen Stolz betrachten, auf der anderen Seite stehen die Kritiker, die oft in ihrem Bemühen zur Wahrung der demokratischen Grundfesten der Türkei über das Ziel hinaus schießen und Zerrbilder bemühen, um ihren Warnungen Nachdruck zu verleihen.

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Wo also steht die Türkei zur Zeit wirklich, was bedeutete es, wenn das Referendum zu Gunsten Erdoğans ausgeht und haben wir hier in Deutschland überhaupt die Möglichkeit, in angemessener Form darüber zu urteilen? Vor allem aber auch die Frage danach, wie sich diese inneren türkischen Konflikte mittlerweile nach Deutschland verlagern und wie wir in Deutschland uns davor schützen wollen, in Zukunft nicht Teil eines unsichtbaren Bürgerkriegs zu werden, sind gerade jetzt im Augenblick dringender denn je zu beantworten und es wird schon in absehbarer Zeit erforderlich sein, sich eingehendere Gedanken über die türkische Innenpolitik gemacht zu haben, wenn man die Auswirkungen und Absichten ihrer Außenpolitik verstehen will.

Was Sie zur geplanten Verfassungsreform wissen müssen
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Türkisches Parlament 2015. Quelle: dpa
Symbolbild aus Deutschland zur Wahl in der Türkei 2014 Quelle: dpa
Recep Tayyip Erdogan Quelle: dpa
Justizminister Bekir Bozdağ Quelle: REUTERS

Erdoğans Referendum ist der letzte Schritt in einer Kette von fundamentalen Veränderungen, die der türkische Ministerpräsident seit seinem Amtsantritt vor 15 Jahren vornehmen will. Seit seiner Wahl im Jahre 2002 ist die Türkei auf einem durchaus erfolgreichen, aber ambivalenten Weg der Konsolidierung. Lange Jahre war die Türkei der Unabwägbarkeit der inneren türkischen Konflikte zwischen der kemalistischen CHP Bülent Ecevits, der Nachfolgepartei Atatürks und den Konservativen der AP unter Präsident Süleyman Demirel und den sich abwechselnden Regierungskonstellationen ausgeliefert. Mit der Regierungsübernahme durch Erdoğans AKP folgte eine der stabilsten Phasen, die man in diesem Land bisher erlebt hat.

Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, dass in einem laizistischen System, dessen größter Albtraum der Rückfall in die Zeit des osmanischen Imperialismus und der einhergehende Niedergang der vergangenen Dynastie gewesen ist, muss man einen Blick auf die neuerliche Entwicklung der Türkei nach Kemal Atatürk werfen.

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