Es scheint, als ob die die amerikanischen Wähler der Republikanischen Partei bei den Zwischenwahlen im November die Kontrolle über das Repräsentantenhaus und womöglich auch den Senat verschaffen werden. Entsprechendes gilt für die Wahlen in vielen US-Bundesstaaten, wo die Republikaner laut Meinungsumfragen an Boden gewinnen. Ein derartiges Ergebnis könnte profunde Folgen für die amerikanische Demokratie haben, insbesondere dann, wenn es zu einer noch stärkeren Schwächung des US-Wahlsystems führt. Angesichts der großen Zahl aktueller Kandidaten, die die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses von 2020 bestreiten, und der enormen Macht über die Gestaltung der Stimmabgabe und -auszählung, die ihnen dieser Wahlsieg verschaffen würde, sind diese Aussichten zunehmend besorgniserregend.
Der voraussichtliche Sieg der Republikaner bei den Zwischenwahlen ist schwer zu begreifen. Die Partei wird inzwischen von einer extremistischen Gruppierung dominiert, deren prominente Mitglieder nicht nur behaupten (oder behauptet haben), dass der frühere Präsident Donald Trump die Präsidentschaftswahl von 2020 gewonnen habe, sondern auch, dass der Klimawandel eine Erfindung sei, Covid-19 eine Verschwörung und der frühere Präsident Barack Obama nicht in den USA geboren. Während viele Republikaner nichts derartiges sagen (und viele, die es sagen, vermutlich nicht daran glauben), haben die Extremisten um Trump das Kommando.
Zwar stimmt es, dass viele gewählte Demokraten, darunter einige vom weit linken Rand der Partei, ebenfalls umstrittene Aussagen von sich geben. Aber deren Zahl ist viel kleiner, und sie neigen viel seltener dazu, Tatsachen falsch darzustellen. Generell dürfte das Ergebnis dieser Wahlen – wie meistens – von jenen bestimmt werden, die weder eingefleischte Trump-Loyalisten noch progressive Linke sind. Es stellt sich daher die Frage, warum Wechselwähler in Betracht ziehen würden, der gegenwärtigen Version der Republikanischen Partei ihre Stimme zu geben.
Die Antwort ist natürlich, dass für die Wähler Wirtschaftsfragen erste Priorität haben. Ihre Sorgen über steigende Preise sind viel größer als ihr Interesse an Verschwörungstheorien über vergangene oder künftige Wahlen. Zudem scheinen einige Wähler zu glauben, dass Republikanische Präsidenten eine bessere wirtschaftliche Bilanz aufweisen, und sie verweisen auf die aktuelle hohe Inflation und die Furcht vor einer Rezession als Beleg für die mangelnde Wirtschaftskompetenz der Demokraten.
US-Wirtschaft ist in einem guten Zustand
Die tatsächliche historische wirtschaftliche Bilanz allerdings sieht völlig anders aus, als die Leute denken. Die Biden-Regierung hat zwar einige erhebliche politische Fehler gemacht, die US-Wirtschaft aber ist derzeit in gutem Zustand. Es ist bemerkenswert, dass so viele Amerikaner die wirtschaftliche Lage für katastrophal halten, während die Arbeitslosenquote bei 3,5 Prozent liegt. Das letzte Mal, dass die Arbeitslosigkeit noch niedriger war, war im Mai 1969, noch vor dem Auseinanderbrechen der Beatles. In ähnlicher Weise gab es im vergangenen Jahr pro Arbeitslosem fast zwei freie Stellen, was den angespanntesten Arbeitsmarkt seit Beginn der Aufzeichnungen im August 2007 signalisiert. Normalerweise liegt das Verhältnis deutlich unter eins.
Obwohl die Wahrscheinlichkeit einer Rezession in 2023 oder 2024 aufgrund der starken Zinserhöhungen durch die US-Notenbank viel höher ist als gewöhnlich, ist es unwahrscheinlich, dass die USA bereits in der Rezession stecken. Auch ist gar nicht sicher, dass eine Rezession bevorsteht. Europa andererseits dürfte mit größerer Wahrscheinlichkeit einen schweren Konjunktureinbruch erleben, da die europäischen Volkswirtschaften anfälliger auf die Energiepreise reagieren als die USA.
Die Wut über steigende Preise
Trotzdem sind die Wähler verständlicherweise wütend über die Inflation. Im September stieg der Verbraucherpreisindex im Vergleich zum Vorjahr um 8,2 Prozent Die Kerninflation, die die schwankungsanfälligen Lebensmittel- und Energiepreise außen vorlässt, lag mit 6,6 Prozent niedriger. Das aber ist kein Trost für die Amerikaner, die beim Anblick der Preisschilder im Supermarkt jedes Mal einen Schock erleiden. Der Milchpreis etwa ist seit Februar 2020 um 30 Prozent auf 4,41 Dollar pro Gallone (3,8 Liter) gestiegen. Es ist daher kein Wunder, dass viele Wähler eine Neuauflage der starken Inflation der 1970er und 1980er Jahre befürchten.
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Da die Preise in Dollar steigen, sollte Gleiches auch für die Einkommen gelten. Es mag überraschen, aber insgesamt hat das US-Nominaleinkommen mit den Preisen Schritt gehalten. Doch die Löhne steigen nicht gleichermaßen schnell. Das wöchentliche Realeinkommen ist im Laufe des letzten Jahres gesunken, und der Einkommensanteil, der in den USA an die Spitzenverdiener geht, nimmt wie schon seit mehr als 40 Jahren weiter zu. Doch ist die steigende Ungleichheit in den USA kein neues Phänomen, und die wirtschaftlichen Ungleichgewichte haben sich unter Republikanischen Präsidenten dramatisch verschlechtert, was teilweise an den Steuersenkungen für die Reichen unter den Präsidenten Ronald Reagan, George W. Bush und Trump liegt.
Die meisten Wähler schaden sich selbst
Wenn die Wähler sich Sorgen über die zunehmende Ungleichheit machten, wäre es vernünftiger, wenn sie die Politik der Demokraten unterstützen würden. Während der letzten Jahre haben die Demokraten Obamacare ausgeweitet, sodass nun mehr Amerikaner eine Krankenversicherung haben, und sie haben mittels des Inflation Reduction Act die Preise für Medikamente gesenkt. Darüber hinaus haben sie (bislang erfolglos) versucht, das Steuerschlupfloch bei Gewinnbeteiligungen (Carried Interest) zu stopfen, die Steuern für die Reichen zu erhöhen und eine qualitativ hochwertige allgemeine Vorschulerziehung einzuführen.
Derartige politische Bemühungen sind zum Scheitern verurteilt, wenn die Partei Trumps im November gewinnt. Und doch sind die Republikaner, obwohl sie gegen das ökonomische Interesse der meisten Bürger handeln, und trotz ihrer Feindseligkeit gegenüber der Demokratie selbst – die Favoriten auf den Wahlsieg. Das ist unerklärlich – und alarmierend.
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