Auch zum Jahreswechsel ist es noch feucht-warm in Südchina. Im Flur der Bürogemeinschaft liegen die Schirme zum Trocknen. Die 30 Mitarbeiter von Shanp.com sind auf drei Räume verteilt, die übrigen Zimmer sind von anderen Start-ups belegt.
Liu Kan deutet auf eine Karte. Blaue Punkte markieren Jobangebote. Ein Klick darauf zeigt: Eine Logistikfirma sucht einen Paketauslieferer. Ein anderer Punkt markiert ein Restaurant, das Kellner braucht. Leute, die Shanp.com nutzen, sind die neuen Wanderarbeiter: junge, gering qualifizierte, aber internetaffine Chinesen, zwischen 18 und 35 Jahre alt. Nur noch die Hälfte der vermittelten Jobs seien in Fabriken, sagt Liu. Immer mehr freie Stellen gibt es im Servicesektor: Paketauslieferer, Kellner, Callcenter-Mitarbeiter.
„Wir sind schneller und billiger als herkömmliche Arbeitsvermittler“, sagt Gründer Liu. Der 34-Jährige trägt Jeans, weißes Hemd und eine Kapuzen-Jacke. „Für jede Vermittlung zahlt uns der Kunde 500 Yuan (rund 70 Euro). Die teilen wir mit dem Arbeitnehmer.“
Im Juli, als Shanp online ging, konnte die Plattform 78 Jobs vermitteln, im November waren es schon 594. In acht Monaten will Liu 5000 Arbeitssuchende und Unternehmen zusammenbringen – damit würde das Start-up profitabel sein.
Die Stadt Guangzhou gab bereits eine Million Euro Start-up-Finanzierung, sogar aus dem über 1000 Kilometer entfernten Nanjing kam Geld. Lius Start-up kommt zur richtigen Zeit, das wissen auch viele Politiker: Die Ära der Schwerindustrie geht zu Ende. Innovation und Konsum, nicht mehr Investitionen und Infrastruktur sollen das neue Wachstum bringen. Im letzten Jahr wuchs der Servicesektor um 8,9 Prozent und damit um drei Prozent mehr als die Schwerindustrie. Marken wie Lenovo, Huawei oder Haier expandieren global. Doch der Wandel findet langsam statt, und der Weg ist weit. Noch immer macht die Industrie über 40 Prozent des chinesischen BIPs aus – in Deutschland sind es 30.
II. Das Dorf der verlassenen Kinder
Kurz nach 16 Uhr stauen sich Dreiräder mit Elektromotor vor der Grundschule in Miaoji. Die Männer, die auf ihnen sitzen, haben furchige Gesichter und Zigaretten im Mundwinkel. Viele tragen grüne, wattierte Wintermäntel, schwer wie Decken – Restbestände der chinesischen Volksarmee, eine Größe für alle. Andere haben gefütterte Pyjamas mit bunten Mustern an, in denen sie aussehen wie Teletubbies. Die Temperaturen liegen knapp über null, auf den Dächern schmilzt alter Schnee. Die Luft riecht nach Abgasen.
Die Tore der Grundschule öffnen sich. Die Dreiradmobile fahren auf den Schulhof und kommen mit Kindern beladen wieder hinaus. Keiner der Männer und Frauen ist jünger als 60. Es sind die Großeltern der Kinder. Ihre Eltern haben die meisten seit fast einem Jahr nicht mehr gesehen – sie sind nach Shanghai, Peking und Guangzhou gezogen. Miaoji liegt im Kreis Fuyang in der Provinz Anhui. Die Region liegt keine 500 Kilometer westlich der Metropole Shanghai und gehört zu den ärmsten des Landes.
Knapp zehn Millionen Menschen leben hier. Das Durchschnittseinkommen liegt bei 7000 Dollar im Jahr – eines der niedrigsten des Landes und ein Viertel dessen, was die Menschen in Shenzhen verdienen.
Aus Gegenden wie Fuyang kommen die rund 260 Millionen Wanderarbeiter des Landes. Seit 1992 haben sich 400 Millionen in China aus der Armut befreit. 70 Millionen leben noch immer unter der Armutsgrenze. Weil das Einkommensgefälle zwischen Stadt und Land noch immer so groß ist, ziehen jedes Jahr junge Leute in die Städte auf der Suche nach Arbeit.
Ihr Optimismus ist der Treibstoff Chinas – solange sie es zu Wohlstand bringen können, bleibt auch das revolutionäre Potenzial der Bevölkerung gering. Mit sechs bis sieben Prozent Wachstum im Jahr, glaubt die Partei, diesen Aufstieg in ein besseres Leben gewährleisten zu können.