Weltordnung Die Rettung der Welt ist vorbei

Vor 100 Jahren führte Präsident Woodrow Wilson die USA in den Krieg gegen Deutschland, um die Demokratie in die Welt zu tragen. Über die Geburt einer scheiternden Mission.

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Hafen der Freiheit oder Ausgangspunkt zur Missionierung der Welt. Quelle: AP

Am 2. April 1917 begleicht Wladimir Iljitsch Lenin beim Schuhmacher Titus Kammerer in der Zürcher Spiegelgasse 14 seine Untermiete, um in die Weltrevolution der Arbeiter und Bauern zu ziehen. Es sind noch sieben Tage, dann wird Lenin in den plombierten Geheimzug steigen, der ihn mit Billigung des deutschen Kaiserreiches, das an instabilen Verhältnissen im Land des Kriegsgegners interessiert ist, über Berlin, Sassnitz, Stockholm und Tampere nach Petrograd bringt, in die Hauptstadt des russischen Zarenreiches. Von hier aus will Lenin, nach zehn Jahren im Exil, die Kader der Bolschewiki zum Sieg in Russland führen und die Herrschaft des Volkes um den Globus tragen.

In Washington bereitet sich zur selben Zeit US-Präsident Woodrow Wilson auf die wichtigste Rede seines Lebens vor. Wilson will die Vereinigten Staaten zum Bannerträger der Demokratie erklären, von der heiligen Pflicht sprechen, ihr weltweit auf die Sprünge zu helfen. Er hat versprochen, das Land aus dem Großen Krieg herauszuhalten, aber die Deutschen haben den USA wiederholt den U-Boot-Krieg erklärt und noch dazu den Mexikanern militärische Hilfe zur Rückgewinnung von Texas und Arizona angeboten.

Wilson ist seit Jahren um die schiedsrichterliche Vermittlung eines „Friedens ohne Sieg“ bemüht, aber jetzt ist es genug: Er erklärt Deutschland zu einem „Verrückten, der in die Schranken gewiesen werden muss“. Er kann die Neutralität der USA nicht länger begründen, die USA nicht länger, der geltenden Staatsdoktrin gemäß, aus „permanenten Allianzen“ (George Washington) und „verstrickenden Bündnissen“ (Thomas Jefferson) heraushalten.

Catherine Merridale, Lenins Zug. Eine Reise in die Revolution , Fischer Verlag, 25 Euro. Quelle: Presse

Und so tritt Wilson am 2. April 1917 nicht nur vor den Kongress, um den Kriegseintritt der USA anzukündigen, sondern auch, um dem Krieg als einem entgrenzten Befreiungskampf einen historischen Sinn zu geben. Wilson deutet das Eingreifen der Amerikaner als göttlichen Auftrag einer erwählten Nation, die sich in ihrer unschuldigen Freiheitsliebe und republikanischen Vorbildlichkeit nicht mehr selbst genügen darf, sondern zur globalen Missionsarbeit berufen ist.

Es ist der Moment, in dem die USA sich zum globalen Akteur erklären, in ihre Rolle als Weltmacht schlüpfen, der Moment, in dem die manifest destiny, die offensichtliche Bestimmung der USA, einen universalistischen Zug annimmt: Schluss mit den autokratischen Regimes in Europa und ihren Geheimverträgen! Schluss mit Seeblockaden und asymmetrischen Handelsbeziehungen! Die pax americana verspricht freie Schifffahrt und niedrige Zollschranken, Emanzipation von angemaßter Herrschaft, das Selbstbestimmungsrecht der Völker und eine friedliche Partnerschaft demokratischer Nationen.

Manfred Berg, Woodrow Wilson. Amerika und die Neuordnung der Welt, Verlag C.H.Beck, 16,95 Euro Quelle: Presse

Es ist verblüffend, wie verschieden einig sich Lenin und Wilson damals in ihrem umstürzlerischen Eifer und globalpolitischen Anspruch sind: Was Lenin „die Vision eines internationalen Bürgerkriegs zur Revolutionierung aller Klassengesellschaften“ ist, so der Freiburger Historiker Jörn Leonhard, das ist „bei Wilson das Ideal eines people’s war im Namen demokratischer Prinzipien“. Beide verfolgen „das allgemeine Ziel einer aufgeklärten Menschheit“ (Wilson). Beide streben eine Auflösung der traditionellen Macht- und Bündnispolitik in eine transnationale Weltinnenpolitik an. Beide erheben den Lauf der Geschichte zu einer moralischen Frage.

Und beide rufen die Völker zum Aufstand gegen despotische Eliten auf. Wilson, der die russische Februarrevolution als Fingerzeig der Geschichte, als Fanal für die Demokratisierung der Welt deutet, ist schier aus dem Häuschen vor Freude, dass Nikolaus II. vom Zarenhof gejagt wurde: Das „großartige, großzügige russische Volk“ werde nun „in all seiner ursprünglichen Majestät und Macht der Allianz hinzugefügt, die für die Freiheit in der Welt, für Gerechtigkeit und für Frieden kämpft“.

Schiedsrichter und Weltpolizist

Zu verstehen ist das Pathos nur, wenn man sich das schiere Ausmaß des moralischen Bankrotts der alten Ordnung vor Augen führt. Ein dynastisch regiertes, imperiales Europa, ausgezogen, um die Welt unter sich aufzuteilen, richtet sich seit 1914 waffenstarr im Stellungskrieg zugrunde. Allein die beiden Versuche der Entente-Mächte im April 1917, ein bisschen Bewegung in die Westfront zu bringen, kosten 600.000 Soldaten das Leben.

Kein Wunder, dass Wilson, der tiefgläubige Sohn eines Calvinisten-Pfarrers, ausgestattet mit reichlich Selbst- und Sendungsbewusstsein, politisch groß geworden im Geist eines progressiven Reformglaubens, zum idealistischen Höhenflug ansetzt, um den ersten Auftritt der Amerikaner auf der Weltbühne einem höheren Ziel zu weihen: der Zukunft einer im „Völkerbund“ geeinten Welt, unter Einschluss der Deutschen übrigens, sofern sie sich ihres Regimes entledigen.

Für die meisten Europäer sind die USA kein beargwöhnter Hegemon, sondern eine Verheißung, ein „Leuchtturm, der der Welt die Wege“ weist (Ralph W. Emerson). Franzosen, Briten und Italiener sind dankbar, als die USA durch ihr Eingreifen den Krieg beenden; die Deutschen erhoffen sich vom „unparteiischen Sieger“ einen milden Verständigungsfrieden. Als Wilson um die Jahreswende 1918/19 in Europa eintrifft, um die Nachkriegswelt zu ordnen – es ist die erste Auslandsreise eines US-Präsidenten überhaupt –, wird er in Paris, London und Rom wie ein Heilsbringer gefeiert. Was damals möglich scheint, noch glühende Hoffnung ist: dass die Globalisierung von Volksherrschaft und Marktwirtschaft unter US-Führung gelingt.

Und heute? Es gehört nicht viel Fantasie dazu, um Wilsons „liberalen Internationalismus“ als Geschichte einer hochfliegenden Idee und ihrer andauernden Enttäuschung zu lesen. Der Frieden von Versailles verschärfte den Nationalismus in Europa, die USA zogen sich enttäuscht auf sich selbst zurück. Sie wünschten vom „Rest der Welt bloß in Ruhe“ gelassen zu werden (General Tasker Bliss), verhängten hohe Schutzzölle, kosteten ihre finanzielle Vorherrschaft aus und betrachteten Europa als Absatzmarkt: „Amerikas Geschäft ist das Geschäft“ (Präsident Calvin Coolidge, 1924).

Die Geschichte der freien Marktwirtschaft
Metamorphose IIn der Frühphase des Kapitalismus werden aus Landarbeitern Handwerker: Webstuhl im 19. Jahrhundert in England. Quelle: imago / united archives international
Metamorphose IIMit der Industrialisierung werden aus Handwerkern Arbeiter: Produktion bei Krupp in Essen, 1914. Quelle: dpa
Metamorphose IIIIm Wissenskapitalismus werden Arbeiter zu Angestellten und Proletarier zu Konsumenten: Produktion von Solarzellen in Sachsen. Quelle: dpa
Ort der VerteilungsgerechtigkeitDen reibungslosen Tausch und die Abwesenheit von Betrug – das alles musste der Staat am Markt anfangs durchsetzen. Quelle: Gemeinfrei
Ort der KapitalkonzentrationDer Börsenticker rattert, die Märkte schnurren, solange der Staat ein wachsames Auge auf sie wirft Quelle: Library of Congress/ Thomas J. O'Halloran
Ort der WachstumsillusionWenn Staaten Banken kapitalisieren, sind das Banken, die Staaten kapitalisieren, um Banken zu kapitalisieren... Quelle: AP
Karl MarxFür ihn war der Unternehmer ein roher Kapitalist, ein Ausbeuter, der Arbeiter ihrer Freiheit beraubt. Quelle: dpa

In der bipolaren Welt nach dem Zweiten Weltkrieg schließlich verstanden sich die USA nicht mehr als Schiedsrichter, sondern als machtvoll auftrumpfender „Weltpolizist“. Gewiss: US-Präsidenten von Kennedy bis Reagan griffen zu einer demokratischen Missionierungsrhetorik, wie Wilson sie vorgeprägt hatte, und nach dem Fall der Mauer glaubten Bush senior und Clinton, der Vermehrung der Demokratien stünde nun nichts mehr im Wege.

Und doch haben die USA spätestens mit ihrer Nahostpolitik nicht nur die Ambition als ethischer Hegemon, sondern auch jede Möglichkeit einer „moralischen Außenpolitik“ des Westens verspielt. Es ist dieses Vakuum, in das China, Russland und die Türkei nun stoßen: mit antiliberalem Nationalismus, der auf moralische Neutralität – die „Nichteinmischung in innere Angelegenheiten“ – pocht.

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