Global tätige Unternehmen mit Sitz in Industrieländern sehen sich vermehrt politischem Druck und in jüngster Zeit auch rechtlichen Zwängen ausgesetzt, ihre Produktion an gesellschaftlichen Zielen auszurichten. Ein niederländisches Gericht verurteilt den Ölmulti Shell, die aus seiner Geschäftstätigkeit und dem weltweiten Verkauf seiner Produkte entstehenden CO2-Emissionen bis zum Jahr 2030 um 45 Prozent gegenüber 2019 zu senken. Das Gericht begründet seine Entscheidung mit der Verpflichtung zum Schutz niederländischer Bürger und der Gefahr, dass Shell mit seiner Geschäftspraxis die Einhaltung der Ziele des Paris Klimaschutzabkommens gefährde.
Deutsche Unternehmen werden durch das künftige Sorgfaltspflichtengesetz (Lieferkettengesetz) verpflichtet, die Einhaltung von internationalen Richtlinien zum Schutz von Menschenrechten und der Umwelt in ihrem Geschäftsbereich zu kontrollieren. Grobe Verstöße können Haftungsansprüche entlang der gesamten Lieferkette begründen.
Die EU plant eine noch weitergehende Richtlinie, die auch gute Regierungsführung in Lieferländern zum Ziel erhebt. Die USA greifen mit dem Frank-Dodd-Act auf amerikanische Unternehmen zu, die aus Konflikt- und Risikoländern wie den afrikanischen Anrainerstaaten entlang der großen Seen (Ostkongo, Ruanda, Burundi) mineralische Rohstoffe beziehen, ohne die Zertifizierungsauflagen der amerikanischen Regierung für den Kleinbergbau zu beachten.
Gemeinsam ist diesen Gesetzen dreierlei. Erstens folgen sie den Präferenzen vieler Bürger und Nichtregierungsorganisationen in den Industrieländern zugunsten von mehr Nachhaltigkeit, Menschenrechten und Umweltschutz. Das ist einsichtig, denn mit guter Bildung und einem höheren Wohlstand werden Risiken, die nicht unmittelbar die eigene Existenz bedrohen und nicht gleich morgen drohen, höher gewichtet.
Extraterritoriale Anwendung von Gesetzen
Zweitens beschränken sie die Handlungssouveränität der Regierungen ärmerer Länder und ignorieren im Konfliktfall deren Präferenzen und die der Bürger in diesen Ländern. Diese Präferenzen unterscheiden sich von denen in reichen Ländern dadurch, dass sie das eigene Wohl in unmittelbarer Zukunft hoch bewerten, manchmal sogar, koste es, was es wolle.
Viele der Regierungen dieser Länder können oder wollen daher international eingegangene Verpflichtungen zum Schutz ihrer Bürger nicht umsetzen. Beschäftigte denken in Alternativen und nehmen selbst schwierige Arbeitsbedingungen innerhalb internationaler Lieferketten in Kauf, weil diese immer noch besser sind als die Bedingungen auf informellen Arbeitsmärkten, die außerhalb der Reichweite der Gesetze der Industriestaaten liegen.
Die EU beklagt die extraterritoriale Anwendung von nationalen Gesetzen, wenn sich die USA ihr gegenüber so verhält wie bei North Stream 2 oder den Sanktionen gegen den Iran. Sie würde sich auch dagegen verwahren, sollte ein Land beispielsweise das Konsumverhalten in der EU als unvereinbar mit eigenen ethischen Normen ansehen und dagegen einschreiten. Wenn es aber um die extraterritoriale Anwendung von eigenen Gesetzen gegenüber armen Ländern geht, ist sie auf ihrem eigenen Auge blind.
Drittens vernachlässigen die Gesetze die sogenannten Zweitrundeneffekte, die aus Reaktionen der betroffenen Unternehmen resultieren. Shell könnte als Reaktion auf das Urteil seinen „schmutzigen“ Tätigkeitsbereich an Unternehmen in Ländern verkaufen, deren Regierungen und Gerichte untätig blieben. Der Umwelt wäre damit nicht geholfen. Unternehmen, die Lieferanten in unsicheren Ländern haben oder haben könnten, würden diese Länder meiden. Den dortigen Beschäftigten wäre auch nicht geholfen. Sie würden vielleicht in noch schlechtere Beschäftigungen abgedrängt. Der Graben zwischen formell und informell Beschäftigten könnte größer werden, auch und gerade zu Lasten von Kindern, deren Arbeitseinsatz durch die Gesetze verhindert werden sollen.
Die Nutznießer sollten zahlen
Die auf Nichtdiskriminierung ausgerichteten Regeln der WTO verbieten grundsätzlich die extraterritoriale Anwendung von nationalen Gesetzen und damit Handelsbeschränkungen, wenn den heimischen Konsumenten keine Gefahr beim Verbrauch von importierten Gütern entsteht. Sie setzen Produkte aus unterschiedlichen Produktionsweisen gleich, sofern diese physisch gleich sind. Dieses „like product“ Prinzip ist in der Vergangenheit durch Streitschlichtungsverfahren modifiziert worden. Es ist aber immer noch eine wichtige Grundlage dafür, dass das Diskriminierungsverbot eingehalten wird.
Aus dem Dilemma zwischen dem Ziel von mehr Nachhaltigkeit in den internationalen Wirtschaftsbeziehungen zum Schutz von Mensch und Umwelt und der Absage an die Bevormundung armer Länder durch reiche Länder kommt nur heraus, wer das Nutznießerprinzip (victim’s pay principle) anwendet: wer geschädigt ist oder sich geschädigt fühlt, bezahlt den Verursacher dafür, dass er die tatsächliche oder vermeintliche Schädigung unterlässt. Diese Zahlung ist Aufgabe von Staaten, nicht von Unternehmen, da es Staaten und ihre Regierungen sind, die die Präferenzen ihrer Bürger umsetzen müssen.
Staaten in reichen Ländern haben in der Vergangenheit dieses Prinzip häufig als Erpressung verstanden und ablehnend reagiert, wenn beispielsweise Regierungen armer Länder als Preis für den Verzicht auf wirtschaftliche Nutzung wertvoller Ökosysteme eine Entschädigung verlangten. Diese Haltung führt nicht weiter.
Arme Länder brauchen viel mehr materielle Hilfen von außen als bisher, um die Präferenzen reicher Länder zu erfüllen. Unternehmen können und werden im eigenen Interesse konkrete Hilfen in Form von Technologietransfer und Marktanbindung innerhalb ihrer Geschäftsbeziehungen leisten. Für sie ist der Nachweis der größeren Nachhaltigkeit ihrer Produkte ein Aktivposten. Sie können aber nicht an die Stelle von Regierungen treten, die öffentliche Güter zu produzieren haben und dies versäumen.
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