Jürgen Todenhöfer, heute ist Ihr neues Buch „Inside IS - 10 Tage im 'Islamischen Staat'“ erschienen. Darin beschreiben Sie Ihre Erlebnisse vom Dezember 2014, als Sie als bisher einziger westlicher Journalist in das Zentrum des IS-Staats reisten und dort zehn Tage Interviews führten. Was ist neu in Ihrem Buch? War nicht schon alles bekannt?
Jürgen Todenhöfer: Recht wenig war bisher bekannt: Der nicht abreißende tägliche Nachschub an jungen Ausländern, die unglaubliche Begeisterung der Kämpfer, die Tatsache, dass die Rückkehrer in den Augen des IS 'Fahnenflüchtige' sind, der bescheidene Alltag der Kämpfer, dass die vom Westen finanzierte Freie Syrische Armee Hauptmunitions-Lieferant des IS ist – all das wusste man nicht wirklich. Statt Fakten gab es Vermutungen, Gerüchte und fast täglich Falschmeldungen.
Im Grunde steht in dem Buch fast alles, was man über den IS wissen muss. Warum gehen so viele junge Leute aus aller Welt dort hin? Wie denken sie? Was machen sie dort den ganzen Tag? Was denken die Einheimischen über sie? Wie sieht das tägliche Leben als Mitglied der weltgrößten Terrororganisation unserer Zeit aus? Die meisten Antworten zu diesen Fragen sind schockierend. Ich habe in meinem Leben schon einiges erlebt. Aber beim IS klappte mir mehrfach die Kinnlade runter.
Aus welchen europäischen Ländern radikale Islamisten kommen
Das "International Centre for Study of Radicalisation and Political Violence" (ICSR) hat in Kooperation mit der Münchener Sicherheitskonferenz für 50 Länder ausgewertet, wie viele Bürger aus den jeweiligen Staaten nach Syrien oder in den Irak gezogen sind, um sich militanten Gruppen anzuschließen. Die Daten für die einzelnen Länder beziehen sich auf die zweite Hälfte des Jahres 2014. Aus Westeuropa – so wird geschätzt – sind mittlerweile 4000 Kämpfer vor Ort. Ende 2013 waren es nicht einmal halb so viele. Geordnet werden die Länder nach der Anzahl der Kämpfer pro eine Million Einwohner.
Circa 80 Kämpfer im Irak und in Syrien stammen aus Italien. Das macht 1,5 Kämpfer pro eine Million Einwohner.
Zwischen 50 und 100 Spanier haben sich militanten Gruppen angeschlossen. Auf eine Million Einwohner kommen damit rund zwei Kämpfer.
Das ICSR schätzt die Zahl der Schweizer Kämpfer auf 40. Damit sind fünf Schweizer pro eine Million Einwohner nach Syrien oder in den Irak gezogen.
Aus Irland stammen rund 30 Kämpfer. Das entspricht sieben pro eine Million Iren, die sich militanten Gruppen angeschlossen haben.
Aus Deutschland kommen 500 bis 600 Menschen, die in Syrien und im Irak kämpfen. Damit gehört das Land zu der Gruppe europäischer Länder, aus denen insgesamt die meisten stammen. Pro eine Million Einwohner macht das 7,5.
Die gleiche Zahl an Kämpfern, 500 bis 600, stammt aus Großbritannien. Auf die Zahl der Einwohner heruntergerechnet sind es 9,5 pro eine Million.
60 Menschen, die im Irak oder in Syrien kämpfen, kommen aus Norwegen. Auf eine Million Einwohner heruntergerechnet, sind das zwölf Kämpfer.
Für Finnland schätzt das ICSR die Zahl derer, die nach Syrien oder in den Irak gezogen sind, auf 50 bis 70. Das entspricht 13 Kämpfern pro eine Million Einwohner.
Die Zahl der Niederländer, die in den Krieg gezogen sind, liegt zwischen 200 und 250. Heruntergerechnet auf eine Million Einwohner sind das 14,5 Kämpfer.
Aus Österreich ziehen zwischen 100 und 150 Radikale nach Syrien oder in den Irak. Pro eine Million Einwohner sind das 17.
1200 Kämpfer im Irak und in Syrien stammen aus Frankreich. Damit kommen die meisten Europäer dort aus Frankreich. Weltweit kommen nur aus Jordanien, Marokko, Saudi-Arabien und Tunesien mehr. Auf eine Million Einwohner heruntergerechnet macht das 18.
Zwischen 150 und 180 Schweden kämpfen als Extremisten. Pro eine Million Einwohner sind das 19.
Dänemark gehört zu den Ländern mit einem der größten Probleme, was radikale Islamisten angeht. Zwischen 100 und 150 Dänen sind nach Syrien oder in den Irak gezogen, um zu kämpfen. Das entspricht 27 Kämpfern pro eine Million Einwohner.
Pro eine Million Einwohner in Belgien sind 40 in den Irak oder nach Syrien gezogen. Insgesamt sind es 440.
Was war denn Ihre Motivation für diese lebensgefährliche Reise?
Ich wollte das Phänomen IS verstehen. Als ehemaliger Richter ist es für mich normal, mit allen Seiten zu sprechen. Außerdem muss man seine Feinde kennen, um sie besiegen zu können. Ich hatte in Syrien mehrfach mit Assad gesprochen, mit Vertretern der Opposition, mit Führern und Kämpfern verschiedener Rebellengruppen, einschließlich der Freien Syrischen Armee und der al-Nusra-Front. Der IS hatte sich neben Assad zunehmend als stärkste Kraft in diesem grauenvollen Konflikt etabliert. Das hatte ich übrigens schon vor 15 Monaten vorausgesagt. Damals war ich dafür noch heftig kritisiert worden. Da Ferndiagnosen einen selten weiterbringen, habe ich letztes Jahr dann Kontakt mit deutschen Jihadisten verschiedener Organisationen in Syrien aufgenommen. Einige von ihnen waren beim IS. Mit denen habe ich intensiv geskypt. Aber auch via Skype konnte ich mir kein abschließendes Urteil bilden, also bin ich letztendlich hin.
Zur Person:
Jürgen Todenhöfer studierte Rechts- und Staatswissenschaften und wurde 1970 Mitglied der CDU und 1972 Richter an der Strafkammer des Landgerichts Kaiserslautern. Ende 1972 zog er bei vorgezogenen Bundestagswahlen in den Deutschen Bundestag ein, wo er bis 1990 vertreten war. Nach längerer politischer Abstinenz ging er erst nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 wieder in die Öffentlichkeit. Zum Afghanistankrieg und zu den amerikanischen Plänen einer Irak-Offensive meldete er sich kritisch zu Wort und sprach sich für diplomatische Lösungen aus. Er veröffentlichte zahlreiche Bestseller, in deren Zentrum der Einsatz für Frieden durch Verhandlungen steht. 2003 schrieb er “Wer weint schon um Abdul und Tanaya?”. In “Andy und Marwa” (2005) schildert Todenhöfer zwei Schicksale des Irak-Krieges. Es folgten die Bestseller “Warum tötest du, Zaid?” (2008) und “Teile dein Glück” (2010) sowie „Du sollst nicht töten“ (2013). Am heutigen 27. April erschein sein aktuelles Buch „Inside IS“ im C. Bertelsmann-Verlag.
Wie haben Sie die deutschen Jihadisten gefunden?
Gemeinsam mit meinem Sohn habe ich im Internet recherchiert. Wir haben ganz einfach die Möglichkeiten der sozialen Netzwerke genutzt, um sie zu finden. Da viele junge Leute - auch Jihadisten - heutzutage auf Facebook fast alles preisgeben, Wohnort, Freundeskreis, Interessen, Aufenthaltsort, ist das nicht wirklich schwer. Wenn man weiß, wie man die einzelnen Punkte verbinden muss.
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Sie hatten ein bei Überdosierung tödlich wirkendes Spezialmedikament bei sich. Notfalls auch für Ihren Sohn Frederic und dessen Freund. Ist das verantwortbar?
Es war kein Spezialmedikament. Es waren auch keine Giftpillen, wie einige Zeitungen schrieben. Sondern ein normales Medikament, das nur in Überdosis tödlich wirkt. Die Fahrt zum IS war trotz aller Garantien des sogenannten Kalifats ein Rendezvous mit dem Tod. Ich musste mich mit der nicht hundertprozentig auszuschließenden Möglichkeit auseinandersetzen, dass ich wie andere Geiseln vor laufender Kamera enthauptet werde. Und für diesen Notfall wollte ich gewappnet sein. So wie manche Spezialkräfte bei lebensgefährlichen Einsätzen.
Warum sollte ich dem IS die Möglichkeit geben, den Zeitpunkt meines Todes zu bestimmen? Mein Sohn akzeptierte, dass es im Notfall diese Alternative gab. Außerdem habe ich wie vor jeder Reise mein Testament neu geschrieben. Beides, das Medikament und die Aktualisierung meines Testaments, gehörten für mich zur professionellen Vorbereitung einer solchen Reise. Neben gezielten politischen Kontakten mit einflussreichen Freunden im Mittleren Osten, die ich über die Reise informierte. Um im Notfall die Unterstützung ihrer Regierungen zu bekommen. Sie haben mir natürlich als erstes dringend von der Reise abgeraten.