Ärztetag Deutschlands Medizin hinkt digital hinterher

Quelle: dpa

Auf dem Ärztetag herrscht Unmut über die schlechte Platzierung Deutschlands in einer Vergleichsstudie. Fünf Gründe, warum das deutsche Gesundheitssystem tatsächlich rückständig ist.

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Zu Beginn des deutschen Ärztetages am Dienstag in Freiburg hat sich Ärztepräsident Frank Ulrich Montgomery über einen jüngst veröffentlichten Vergleich der Gesundheitssysteme weltweit erbost. Deutschland landete dabei auf Platz 20 - hinter Griechenland! Diese Studie aus dem Wissenschaftsmagazin Lancet sei Mist, beschied Montgomery den versammelten Standesvertretern. Die werden in den nächsten Tagen darüber entscheiden, nach welchen Maßstäben Mediziner ihre Patienten behandeln und wie zum Beispiel die Digitalisierung endlich ins Gesundheitssystem eingebracht werden soll.

Die Aussage Montgomerys unter Applaus der Kollegen führt recht gut hin zu einer Erklärung, warum deutsche Arztpraxen und Patienten, Kliniken und andere Gesundheitsprofis noch kaum vernetzt sind. Deutschland hinkt anderen Ländern etwa in Skandinavien nämlich tatsächlich rund zehn Jahre hinterher. Warum Telemedizin noch eine große Ausnahme ist und Patienten eine digitale Gesundheitsakte eher fürchten als dadurch mehr Mitsprache und Beteiligung zu nutzen.

Fünf Gründe, warum Deutschland in Sachen Gesundheit digital rückständig ist:

Die größten Krankenkassen

1. Es läuft auch ohne Digitalisierung - bisher

Stimmt. Trotz aller Klagen: Deutschland setzt viel Geld für Gesundheit ein und erzielt dabei gute Ergebnisse. Deshalb ist der Druck gering, die Dinge einmal völlig neu zu denken. Digital nämlich.

In Estland war das System so schlecht, dass sich ein radikaler Umbau lohnte. Jetzt sind die Esten digital weit vorne und die Gesundheitsversorgung ist deutlich besser.

In Dänemark kalkulierten die Chefs des staatlichen Gesundheitssystems, dass die Versorgung der alternden Bevölkerung bald nicht mehr finanzierbar sei. Digital ist langfristig billiger. Digital bringt aber auch bessere Ergebnisse - ein wichtiges Argument gegenüber skeptischen Patienten.

In Deutschland trauen sich Gesundheitspolitiker nicht, derart mutig voran zu gehen.

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2. Bremsen lohnt sich

Anders als Dänemark etwa hat Deutschland kein staatliches Gesundheitssystem. Versicherte zahlen in verschiedene private wie gesetzliche Versicherungen ein, die dann die Gesundheitsprofis bezahlen. Krankenkassen und Ärzte sollen unter Aufsicht der Regierung auch selbst aushandeln, wie die Versorgung organisiert wird.  Ein solches Stände-System funktioniert gut in Zeiten des Wachstums - bei jeder Veränderung können die Betroffenen mehr Geld für den Umbau einfordern.

Ärztekammern, Kassenärzte-Vereinigungen und Krankenkassen profitieren davon, in Zeiten des Umbruchs zunächst nichts zu tun und dann Unterstützung zu fordern für das, was eigentlich ihre Aufgabe ist: Das Gesundheitswesen in Schuss zu halten und den Patienten sinnvolle neue Behandlungen zugänglich zu machen. Nähmen sie den Auftrag ernst, hätte ihre gemeinsame IT-Gesellschaft Gematik in zehn Jahren vielleicht eine nutzbare Neuerung hinbekommen.

Sichtbar wird auch eine Generationenkluft: An entscheidender Stelle bei den Standesvertretern haben Ältere das Sagen. Die Etablierten vermeiden es im Gegensatz zu vielen jungen Medizinern, neue Technologien auszuprobieren und voranzutreiben. Wie wenig die Ärztefunktionäre von der Vernetzung halten, zeigen sie mit ihrem aktuellen Positionspapier: "Digitalisierung geht nicht mehr weg", lautet die Überschrift.

3. Der Gesundheitsminister hält sich zurück

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) hat in Freiburg viel Lob von Ärztepräsident Montgomery bekommen. Der Minister sieht sich eher als Moderator und weniger als Treiber neuer Entwicklungen. Das ist in Zeiten voller Sozialkassen machbar, es macht das Gesundheitssystem aber nicht moderner. Vor zwei Jahren schien Gröhe umzusteuern. Er stellte ein Gesetz vor, dass Ärzten und Kassen Geldstrafen androhte, sollten sie bei der geplanten Digitalisierung weiter bremsen. Das führte dazu, dass diese nun auftreten wie die griechische Regierung und Gröhe wie ein Vertreter der Europäischen Union. Die einen liefern zu spät und zu wenig, die anderen fordern mehr und fragen immer mal stirnrunzelnd nach. Und am Ende geht es irgendwie weiter, ohne dass es viel besser wird.

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4. Die Patienten fordern zu wenig

Schon einfache digitale Anwendungen haben Vorteile: Sind im Notfall die Gesundheitsdaten eines Kranken abrufbar, kann ihm schneller und gezielter geholfen werden.  Eine elektronische Liste mit allen Arzneimitteln, die jemand einnimmt, kann helfen, Unverträglichkeiten und zu hohe Dosen zu erkennen.

Doch Menschen sind meist krank oder haben andere Sorgen, wenn sie das Gesundheitssystem besonders brauchen. Technikaffine Jüngere sind seltener krank. Dass Jüngere digitaler Medizin trauen, zeigt sich daran, wie populär Fitness- und Gesundheit-Apps sind. Dabei ist dieser Markt noch kaum reguliert und viele Apps saugen vor allem die Gesundheitsdaten der Nutzer ab. 

Langsam setzt sich bei Bürgern aber eine andere Haltung durch: Menschen in entlegenen Gegenden fordern Telemedizin statt weiter Wege zum Hausarzt. Chronisch Kranke haben erfolgreich gegen Verbote von Online-Apotheken geklagt.

5. Gesundheits-Startups haben es schwer

Gründer mit einer tollen technologischen Idee haben es im Gesundheitswesen schwer. Viele schaffen es nicht, die lange Zeit zwischen Entwicklung einer Geschäftsidee und tatsächlicher Umsetzung zu überstehen. Das liegt zum einen daran, dass medizinische Anwendungen, die  Versicherungen bezahlen, zunächst geprüft werden. Es ist sinnvoll zu testen, ob eine Anwendung der Gesundheit hilft und einigermaßen wirtschaftlich ist. Patienten sind halt keine Kunden, die das alles selber entscheiden und bezahlen. Doch weniger sinnvoll ist, dass manche Versicherungen Digitalisierung immer noch mit der Anschaffung von PCs gleichsetzen. Nur einige Vertreter der Sozialversicherungen sind neuer Technik gegenüber aufgeschlossen. Und solange 95 Prozent der Kassenleistungen ohnehin für alle Krankenkassen gleich sind, lohnt es sich auch noch wenig, mit digitalen Angeboten neue Versicherte zu locken. Manche Medizin-Startups sind da gleich in die USA ausgewandert.

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