Dass die aktuell sechs Millionen Hartz-IV-Empfänger mit der Grundsicherung nicht leicht über die Runden kommen, ist offensichtlich. Dass flexible Arbeitsmodelle niedrige Löhne und fehlende Sicherheit mit sich bringen können, ist die Kehrseite des wirtschaftspolitischen Erfolgs der Hartz-Reformen. Die Emotionalität, mit der die Deutschen die Debatte führen, offenbart aber mehr als nur Meinungsverschiedenheiten. Die Diskussion spült grundsätzliche Fragen um die Zukunft unserer Gesellschaft an die Oberfläche: Was ist uns Arbeit wert? Wie wollen wir unsere Wirtschaft am Laufen halten, um unseren Wohlstand zu sichern? Wie viel kann unser Sozialstaat noch leisten in unserer hoch verschuldeten und überalterten Gesellschaft? Wie kann die Anspruchsinflation gebrochen werden, die die Verantwortung für die eigene Lage einseitig dem Staat aufbürdet und eigene Verantwortung und Anstrengung leugnet?
Wer hat nun Recht? Die Debatte ist nicht zu entscheiden. Die Betroffenen fühlen sich gegängelt, schikaniert, um den Wert ihrer Ausbildung gebracht, entrechtet, stigmatisiert. Sie können sich bestätigt sehen durch Medien und Parteien, die die Einzelschicksale in den Vordergrund stellen und die persönliche Betroffenheit strapazieren. Die Befürworter argumentieren mit Statistiken, Zuwächsen, Haushaltszahlen – kalte Begriffe der wirtschaftlichen Logik gegen das heiße Herz des Mitfühlens. Das macht die Debatte so gefährlich.
Insbesondere die Partei „Die Linke“ hat die Auseinandersetzung für sich zu nutzen gewusst. Die „Montagsdemos“ in Leipzig richteten sich gegen die Vorgängerpartei der Linken, die SED und ihr verbrecherisches Regime in der DDR. Die Linke nutzte den Begriff der Montagsdemo als Protest gegen die Bundesrepublik und ihre politischen Repräsentanten. Es ist eine ungeheure Umwertung von Begriffen; die Begriffe der friedlichen Revolution gegen den Sozialismus haben sich die alten Machthaber der DDR im neuen Gewand der SED/PDS/Linke angeeignet und gegen ihre eigenen Kritiker instrumentalisiert. Die SPD ist weich geworden. Statt die Erfolge zu verteidigen, versteckt sie sich hinter den Kritikern. Die Union ihrerseits weicht notwendige Reformschritte auf, biedert sich an und kann dies umso leichter tun, da diese Reformen nicht mit Angela Merkel, sondern mit Gerhard Schröder verbunden werden.
Debatte im Hamsterrad
Dabei haben die Proteste erst bewirkt, dass Hartz IV überhaupt wirkt: Denn es ist die Angst vor dem sozialen Abstieg, die Belegschaften, Betriebsräte und Gewerkschafter veranlasste, niedrigere Löhne oder Lohnanstiege zu akzeptieren, die flächendeckenden einheitlichen Tarifverträge durch niedrigere nach betrieblicher Leistungsfähigkeit zu unterlaufen.
Immer wieder fehlt in der Debatte die Alternative. Eine sachliche Diskussion ist daher kaum möglich. Kritiker empfinden die Reformen als ungerecht, wie Gert Schaufel im Gästebuch des Presseclubs anmerkt: „Diesem Roland Tichy würde ich ein Jahr Arbeit auf dem Bau verordnen. Wenn solche ignoranten Menschen behaupten, dass es Deutschland seit diesen Maßnahmen gut geht meint er sicher seine Person und seines Gleichen. Für viele Menschen, die Tag für Tag schwer und das für Mindestlöhne arbeiten, ist das der blanke Hohn. Solche Leute müssten schon allein für Ihre Äußerung bestraft werden.“
Allerdings treffen in der WirtschaftsWoche auch positive Zuschriften ein, wie ein Leserbrief von Josef Pellenz zeigt: „Sie, Herr Tichy, vergleiche ich immer mit dem Propheten, den man aus der Stadt verjagt, dem Überbringer schlechter Nachrichten. Ich kenne kein Land, in dem man mit wohlmeinenden Ideen Erfolge nachweisen könnte. Leider kann man vom Paradies nur träumen. Weder Jesus, noch Karl Marx haben das hinbekommen. Ich muss Sie immer wieder bewundern, Herr Tichy, dass Sie sich Fernsehdiskussionen mit einem breiten Publikum stellen, obwohl Sie sich bewusst sein müssen, wie ungern man doch mit der Wahrheit konfrontiert wird. Die Wahrheit hat es immer schwerer als Populismus. Es gibt nicht viele Journalisten, und ebenso wenig Politiker, die den Mut aufbringen, bittere Wahrheiten zu vertreten.“