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It’s the Stadt-Land-Thing, stupid!

Beat Balzli
Beat Balzli Ehem. Chefredakteur WirtschaftsWoche Zur Kolumnen-Übersicht: Balzli direkt

30 Jahre nach dem Mauerfall ist die Einheit erneut bedroht – wegen der Anziehungskraft der Metropolen und der Deutungshoheit ihrer Meinungsführer.

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Tatort Mittelsachsen. Am 31. Dezember 2019 wird die örtliche Sparkasse 16 Filialen dichtmachen, mehr als ein Drittel aller Geschäftsstellen. Rund 100 Menschen verlieren ihren Arbeitsplatz – und noch mehr Menschen die Hoffnung, dass es mit der Provinz mal wieder aufwärtsgeht. Der Weg zur Internetbank endet im Funkloch.

Bonjour Tristesse, willkommen im deutschen Alltag. 30 Jahre nach dem Mauerfall ist „Schließen“ das Wort der Stunde – aber längst nicht mehr nur im Osten. Bank weg, Bäcker weg, Bierkneipe weg, Beschäftigung weg, behandelnder Arzt weg. Es ist der brutale Fünfklang einer sich beschleunigenden Zeitenwende. Die Provinz wird abgehängt wie ein alter Güterwagen. Lohnt sich halt nicht. Die Marktwirtschaft hat viele Stärken, regionale Gefälle auszugleichen gehört nicht dazu.

Der kollektive Rückzug aus der Fläche und seine Folgen wurden lange Zeit völlig unterschätzt. In Wahrheit macht er dem Land mehr zu schaffen als die unterschiedlichen Befindlichkeiten von Ossis und Wessis. Die Bedrohung der Einheit manifestiert sich heute in der unbändigen Anziehungskraft der Metropoleninseln – und der Deutungshoheit ihrer Meinungsführer. Sie bestimmen oft die Klima-, Immobilien- oder Verkehrspolitik und die aus ihrer Sicht notwendigen Maßnahmen. In dieser Welt gilt das Eigenheim als Profitmaschine und der E-Roller als Instrument der Verkehrswende. Wenn’s regnet, fährt ja die U-Bahn. Im Rest des Landes fährt gar nix, außer dem eigenen Auto oder alle Stunde eine Regionalbahn mit halb so vielen Haltestellen wie früher. Und Omas Häuschen will auch keiner kaufen.

Das Zentrum-Peripherie-Problem ist alles andere als neu, aber so groß wie heute war es noch nie. In den USA brachte es einen brachialen Bonzen an die Macht, in Großbritannien die Brexitidee zum Blühen. In Deutschland zerreißt der Spagat zwischen den Welten die Volksparteien. Hipster und Hinterwäldler, Punk und Pendler kriegt keiner mehr unter einen Hut.

Wer in einer strukturschwachen Region lebt, darf laut Grundgesetz auf gleichwertige Lebensverhältnisse pochen. Wer das aufgegeben hat, wählt entweder die Flucht oder mitunter die falsche Partei. „Make Provinz great again“ sollte man nicht den Hetzern überlassen. Breitband für jede Milchkanne ist zum Beispiel völlig ineffizient, aber für die neue deutsche Einheit eines von vielen Geboten der Stunde – und nicht nur für mittelsächsische Bankkunden ein Segen.

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