Corona-Lockerungen in Tübingen Tübingens Corona-Erfolg beruht auf der Expertise dieser Ärztin

Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer (Die Grünen) und DRK-Kreisvorsitzende, Pandemie-Beauftragte und Notärztin Dr. Lisa Federle. Quelle: imago images

In Tübingen sucht ein Modellprojekt nach Wegen aus dem Lockdown. Oberbürgermeister Boris Palmer wird schon als der Coronamanager der Republik gefeiert. Dabei stammen die entscheidenden Impulse von Notärztin Lisa Federle.

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Lisa Federles Telefon steht nicht still. Hausbesuche, Notarzteinsätze, Coronatests, so geht es seit einem Jahr, fast jeden Tag. Seit Tübingen einen Modellversuch gestartet hat, um Alternativen zum Lockdown zu erproben, ist an Ruhe erst recht nicht mehr zu denken. „Es ist viel los“, sagt Federle. Aber gestresst wirkt sie nicht, vielmehr von ihrer Arbeit erfüllt. Während des Telefonats steht sie vor der Stadtbäckerei, ihre Sprechstundenhilfe holt gerade Brötchen. „Wir haben noch nicht gefrühstückt“, sagt sie. Es ist 12 Uhr.

Das Konzept „Öffnen mit Sicherheit“, das weitreichende Corona-Lockerungen erlauben soll, erregt bundesweites Aufsehen. Kein Wunder: Denn wenn es in Tübingen gelänge, etwas Normalität in den Alltag zurückzuholen, ohne die Infektionszahlen gleich wieder explodieren zu lassen, könnte die Strategie Schule machen – in ganz Deutschland.

An mehreren Orten in der Stadt können sich die Tübinger derzeit kostenlos testen lassen. Ein negatives Ergebnis ist dann eine Eintrittskarte in Läden, Restaurants und Friseursalons. Sogar Theater und Kinos dürfen wieder Gäste mit Zertifikat empfangen. Forscher der Universität Tübingen begleiten das Projekt. Etwa 5000 Tests werden in der Stadt mit 90.000 Einwohnern täglich durchgeführt, und jeden Tag würden es mehr, berichten ortsansässige Unternehmen. Einer von tausend sei im Schnitt positiv. Schon zu Beginn der Pandemie fiel Tübingen durch schnelles und umfangreiches Testen auf – und hatte meist vergleichsweise niedrige Inzidenzwerte.

Notärztin Lisa Federle ist die Initiatorin des Modellprojekts „Öffnen mit Sicherheit“. Quelle: dpa

Dank Notärztin Lisa Federle. Im März vergangenen Jahres fuhr sie zum ersten Mal mit einem Arztmobil, in dem sie 2015 Flüchtlinge medizinisch versorgt hatte, zu Alten- und Pflegeheimen, testete dort Anwohner und Pfleger auch ohne Verdacht oder Symptome. „Ich habe erkannt, was zu tun ist, und losgelegt“, sagt sie. Für ihren Einsatz verlieh ihr der Bundespräsident im Oktober das Bundesverdienstkreuz. Aber Federle ist auf dem Boden geblieben. „Ich will, dass es funktioniert“, sagt sie. „Und ich bin froh, dass Boris mitzieht.“

Boris, das ist Oberbürgermeister Boris Palmer. Im Gegensatz zu Federle ist Palmer der öffentlichen Aufmerksamkeit nicht abgeneigt. Er wird als Corona-Manager gefeiert, tourt durch Talkshows. Bei „Maybrit Illner“ erklärte der 48-jährige Grüne die Tübinger Strategie niemand geringerem als Frank Ulrich Montgomery, dem Chef des Weltärztebundes.

Was Politiker und Virologen seit Langem diskutieren, bricht er auf eine einfache Formel herunter: „Erst testen, dann genießen.“ Der Schlüssel seiner Strategie sei „learning by doing, trial and error“. Die Pandemie müsse man mit „gesundem Menschenverstand“ bekämpfen, erklärt er am Telefon. „Hätte ich Testkapazitäten ausrechnen wollen, wäre ich nicht fertig geworden.“

Im Podcast erzählt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, warum ihn das Corona-Management der Bundesregierung fassungslos zurücklässt und wie er aus ganz Deutschland ein Tübingen machen möchte.
von Beat Balzli

Eines muss man Palmer lassen: Von diesem Pragmatismus könnte Deutschland eine Portion mehr gebrauchen. Seine Aufgabe bestehe darin, Vorschriften des Bundes „an die Situation vor Ort anzupassen“. Deutsche Politiker „wollen alles perfekt machen“, deshalb komme das Land beim Impfen und Testen nicht voran. Unter normalen Umständen sei der Perfektionismus „anstrengend, in einer Pandemie katastrophal“, sagt er. „Wir planen so lange, bis der Plan überholt ist.“

Dass der Modellversuch in Tübingen möglich war, lag auch an der Bereitschaft der Betriebe vor Ort. Mit den Berufsverbänden der Gastronomen, Friseure und des Einzelhandels sprach Palmer sein Vorgehen im Vorfeld ab. Alle stimmten zu, erzählt er, obwohl der Handel aufgrund der niedrigen Inzidenz bereits Kunden auch ohne negativen Test empfangen konnte. Ohne die Solidarität aller Beteiligten wäre das Modell also nicht realisierbar. „Alle wollten, dass es funktioniert.“

Federle und Palmer bildeten dabei ein gutes Team, findet Christian Klemp. Unternehmer wie er profitieren vom Engagement des Duos. Die Ärztin verfüge über das medizinische Knowhow und sei als ehrenamtliche Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes gut vernetzt. Palmer sorge für den Rückhalt in der Stadt.



Klemp ist Geschäftsführer der Modekette Zinser und betreibt sieben Filialen in Baden-Württemberg. Die Tübinger Niederlassung darf seit dem 8. März wieder öffnen. Durch die beschränkte Zahl an Kunden kommt er nur auf die Hälfte seines üblichen Umsatzes, dennoch hält er die Maßnahme für richtig. Nach einem Jahr Pandemie müsste man neue Konzepte ausprobieren. Niemandem sei geholfen, wenn die Zahlen stiegen und der Einzelhandel komplett schließen müsste. Außerdem bräuchten auch Theaterbetreiber und Gastronomen dringend Hilfe. Eine Stadt lebe von vier Faktoren: Handel, Gastronomie, Kultur und Wohnen. Nur wenn alles zusammenkäme, könne eine Innenstadt funktionieren.

Die Tübinger bekommen nun tatsächlich Tag für Tag, Test um Test, wieder ein Gefühl dafür, wie sich ein Stück urbane Normalität trotz Corona anfühlen kann: Im Landestheater fand am Dienstagabend nach monatelanger Zwangspause die erste Vorstellung statt. Wer teilnehmen wollte, musste sich in einem Zelt vor dem Theater testen lassen. „Bei sechs Grad Kälte haben wir auf unsere Testergebnisse gewartet. Es war wie in einem Science-Fiction-Film“, sagt Intendant Thorsten Weckherlin.

Es konnten zwar nur 90 Zuschauer im großen Saal Platz nehmen, weil die üblichen Sicherheitsabstände weiter gelten. Aber Weckherlins Stimme überschlägt sich trotzdem, wenn er sich an den Abend erinnert. „Der Beifall galt nicht uns, sondern der Situation. Wir hätten auch das Telefonbuch vorlesen können.“

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Auch der Oberbürgermeister ließ sich die Vorstellung nicht entgehen. Eigentlich sei Palmer ja „kein Theatergänger“, sagt Weckherlin, „doch an dem Abend war kein Halten mehr“. Plötzlich sei er „auf die Bühne gesprungen“ und dann, bei der Zugabe, „flippte er völlig aus und tanzte wie verrückt“.

Mehr zum Thema: Im WiWo-Podcast „Chefgespräch“ erzählt der FDP-Vorsitzende Christian Lindner, warum ihn das Corona-Management der Bundesregierung fassungslos zurücklässt und wie er aus ganz Deutschland ein Tübingen machen möchte.

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