Deutsche Behörden Das Digitaldesaster liegt nicht am Geld – im Gegenteil

Akten, Ade? In Deutschlands Amtsstuben herrscht vielerorts noch Analogistan, das kostet Bürger und Unternehmen viel Zeit und Geld.  Quelle: dpa

Zweieinhalb Stunden dauert ein Behördengang im Schnitt – denn in Deutschlands Amtsstuben wird auch im Jahr 2023 vorwiegend analog gearbeitet. Könnte ein Recht auf Digitalisierung den Durchbruch bringen? Ein Gastbeitrag.

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Es klang nach einer Revolution: Bis zum 31.12.2022 sollte die deutsche Verwaltung alle ihre Leistungen digital verfügbar machen. So wollte es das Onlinezugangsgesetz (OZG). Mehr als fünf Jahre nach Inkrafttreten fällt die Bilanz jedoch ernüchternd aus. Die Verwaltung ist an dem hochgesteckten Ziel auf allen Ebenen gescheitert

Gerade einmal etwas mehr als sechs Prozent der Verwaltungsleistungen waren zum Jahresende vollständig digitalisiert. Das ruft die Frage auf den Plan: Warum scheitert Deutschland am digitalen Umbau seiner Verwaltung, während Länder wie Estland, Dänemark und die Ukraine diese Hürde scheinbar mühelos überspringen?

Vorweg: Es liegt nicht am Geld. Im Gegenteil: Es standen reichlich Finanzmittel zur Verfügung. Auch an der Motivation der Verwaltungsmitarbeiter mangelt es nicht: In den Amtsstuben sitzen viele schon in den Startlöchern, um Automatisierungspotenziale zu heben und endlich den Erwartungen des Homo digitalis – auch unter den Bedingungen wachsenden Fachkräftemangels – gerecht zu werden.

Mario Martini Quelle: PR
Fedor Ruhose Quelle: PR

Über die Autoren

Der lähmende Hand zur Perfektion

Komplexe Verwaltungsleistungen zu digitalisieren, ist aber kein Sprint, sondern ein Marathon. Föderale Sichtblenden und der bisweilen lähmende deutsche Hang, stets perfekte Lösungen entwickeln zu wollen, sind nur zwei von zahlreichen Herausforderungen auf der Wegstrecke.

Um die digitale Verwaltung bei den Bürgerinnen und Bürgern ankommen zu lassen, gilt es vor allem einen grundlegenden Konstruktionsfehler des OZG zu beseitigen: Das OZG schlägt alle Verwaltungsleistungen – vom Anwohnerparkausweis über den Bauantrag bis hin zum Waffenschein – über einen Leisten, ohne ihre Digitalisierungseffizienz zu berücksichtigen. 

Enttäuschungen hätten vermieden werden können 

Die Konsequenz: Kaum nachgefragte Leistungen wurden digitalisiert, für stark nachgefragte Leistungen blieb es hingegen beim analogen Behördengang. Eine klare Priorisierungsentscheidung von Anfang an hätte solche Enttäuschungen vermeiden können.

Umso wichtiger ist für die aktuelle Neuauflage des OZG, einen klaren gesetzlichen Digitalisierungsfahrplan zu formulieren: Wichtige Verwaltungsleistungen sollte der Gesetzgeber auf die digitale Überholpur setzen und einen verbindlichen Digitalisierungszeitpunkt vorgeben – weniger massentaugliche Leistungen könnten bis auf Weiteres auf dem „digitalen Standstreifen“ verharren.

Ein solches Konzept unterschiedlicher Geschwindigkeiten lässt sich prinzipiell auch mit einem Anspruch der Bürgerinnen und Bürger auf digitale Leistungsabwicklung flankieren.

Was bringt ein Recht auf Digitalisierung

Ob ein Recht auf Digitalisierung tatsächlich einen Durchbruch bringen würde, lässt sich aber hinterfragen. Denn die geringen Streuschäden, die der Einzelne erleidet, wenn er Verwaltungsleistungen analog statt digital empfängt, mit einer Schadensersatzklage einfordern zu lassen, ist zum einen volkswirtschaftlich nur bedingt sinnvoll. 

Unerfüllte Digitalisierungsversprechen vergrößern zum anderen auch eher das Frustrationspotenzial in der Bevölkerung. Diskussionswürdiger sind Verbandsklagerechte als Damoklesschwert, die an nicht eingehaltene gesetzliche Zielvorgaben Sanktionen knüpfen.

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Ergänzend sollte der Gesetzgeber Anreize setzen, damit die Bürgerinnen und Bürger digital verfügbare Verwaltungsangebote tatsächlich in Anspruch nehmen. So könnten digital gestellte Anträge gegenüber analogen Anträgen Bearbeitungsvorrang genießen. 

Für ihr digitales Leistungsangebot sollte die Verwaltung auch besondere Servicegarantien – beispielsweise eine Bearbeitungsfrist von maximal zwei Wochen – aussprechen, die papierlose Anträge zusätzlich attraktiv machen. Für Unternehmen sollte der Gesetzgeber perspektivisch – wie in Österreich – noch einen Schritt weitergehen: mit einer Rechtspflicht, verfügbare digitale Verwaltungsleistungen zu nutzen.

Bei der Entwicklung der digitalen Angebote lässt sich auch das Prinzip des Wettbewerbs, auf dem der Grundgedanke des Föderalismus fußt, fruchtbar machen: Länder, die nach dem Einer-für-alle Prinzip digitale Verwaltungsleistungen zügig entwickeln, sollten (insbesondere finanzielle) Vorteile genießen – und so einen starken Anreiz erhalten, ihre Leistungen möglichst schnell und nutzerfreundlich zu digitalisieren.

Ein App-Store für die Verwaltung 

Der föderale IT-Verbund braucht aber nicht nur zeitnah klare Zielvorgaben für den zu erreichenden Reifegrad digitaler Verwaltungsleistungen. Er benötigt auch ein ebenso ausgefeiltes wie stabiles Fundament für einheitliche Servicestandards und Basisinfrastrukturkomponenten, wie eine Cloud-Infrastruktur und die Weiterentwicklung bestehender Angebote zu einem „App-Store“ für die Verwaltung. Ein Dashboard sollte zudem den Entwicklungsstand öffentlichkeitswirksam dokumentieren. 

Das allgemeine Verwaltungsverfahrensrecht schlägt bisher noch keine tragfähige Brücke zum Grundanliegen des OZG, über Nutzerkonten den Zugang zur Verwaltung zu erleichtern. Insbesondere verlangt es an vielen Stellen für Anträge noch die Schriftform. Bei einer Überprüfung von 2872 verwaltungsrechtlichen Rechtsvorschriften des Bundes haben die Fachressorts im Jahr 2016 das Schriftformerfordernis noch in 80 Prozent der Fälle für unverzichtbar erklärt – ein Show-Stopper der Verwaltungsdigitalisierung par excellence.

Da geht noch mehr in Sachen Bürokratieabbau 

Nun aber sieht der Entwurf für ein neues OZG eine ermöglichende Generalklausel für das Schriftformerfordernis vor. Ein Anfang scheint also immerhin gemacht. Wir plädieren dafür, die Schriftform noch einfacher durch digitale Äquivalente ersetzbar zu machen. Wenn sich damit zugleich eine Prozessüberprüfung verknüpft, die Normen und Abläufe hinterfragt, birgt dies zusätzliches Entbürokratisierungspotenzial. 

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von Sonja Álvarez, Christian Ramthun

Bund und Länder sollten insbesondere auf Basis der elektronischen Identität des Personalausweises (eID-Funktion) eine leicht zugängliche und digitale Schnittstelle zur Legitimation im Bürgerdialog zur Verfügung stellen. Die Einsatzmöglichkeiten für die digitale Identität des Personalausweises sollte der Staat zeitnah und umfassend – auch für den privaten Rechtsverkehr – ausbauen, damit diese zu einem zentralen Identifizierungsmittel der digitalen Welt avanciert.

Schriftformerfordernisse und Ausweispflichten sind nicht die einzigen rechtlichen Hürden auf der Marathonstrecke hin zu einer vollständig digitalen Verwaltung. Der Chef des kommunalen bayerischen IT-Dienstleisters (AKDB), Rudolf Schleyer, hat in einem Beitrag zu Recht darauf hingewiesen, dass für viele Vorgänge das schlecht digitalisierbare persönliche Erscheinen vorgeschrieben ist.

Durchschnittlicher Behördengang dauert 2,5 Stunden 

Wenn man bedenkt, dass ein durchschnittlicher Behördengang 2,5 Stunden dauert, aber nur 25 Minuten auf die eigentliche Bearbeitung entfallen, während der Rest der An- und Abreise zuzubuchen ist, sollte das Augenmerk darauf liegen, solche Prozesse auf ein Minimum zu reduzieren. Das sollte Bestandteil eines Programms sein, regelgebundene Verwaltungsverfahren stärker zu automatisieren.

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Dafür gilt es, die bislang engen gesetzlichen Fesseln für automatisierte Verfahren zu lockern: Verwaltungsakte automatisiert zu erlassen, sollte nicht nur bei gebundenen Entscheidungen möglich sein, sondern (wie schon im Sozial- und Steuerrecht) generell, wenn kein Anlass besteht, den Einzelfall durch Amtsträger zu bearbeiten. 

Der bisherige gesetzliche Rechtsvorschriftenvorbehalt sowie das vorbehaltlose Verbot, Ermessensverwaltungsakte zu automatisieren, sollten entfallen. Einzelfallentscheidungen des Amtswalters wären dann im Idealfall nur dort nötig, wo besonders grundrechtssensible Bereiche berührt oder besondere Einzelfallerwägungen vorzunehmen sind.

Nur so hat Once-Only eine Chance

Um Verwaltungsleistungen breitflächiger automatisieren und das „Once-Only“-Prinzip zum Leben erwecken zu können, braucht es funktionstüchtige Register. Dafür ist es unumgänglich, auch die Rechtsbegriffe aufeinander abzustimmen. Der Bund sollte nach einem klaren Zeitplan Schwerpunkte für solche Harmonisierungsbedarfe setzen und in ressortübergreifenden Projekten adressieren. Für die verfassungskonforme Registermodernisierung, wie sie der Koalitionsvertrag fordert, fehlt aber aktuell eine greifbare Perspektive. Weder stehen die finanziellen Ressourcen fest, noch sind die rechtlichen Bedenken abschließend ausgeräumt.

Diese Rahmenbedingungen mögen auf den ersten Blick rein technischer Natur erscheinen. Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass das Vertrauen in einen digitalen Staat maßgeblich davon abhängen wird, dass die Bürgerinnen und Bürger auf die sichere, zweckgebundene Verarbeitung ihrer hinterlegten Daten zählen können. Von einer schnellen zeitlichen Perspektive hängt auch hier die dauerhafte Handlungsfähigkeit des Staates ab.

Übers-Knie-Brechen ist keine Dauerlösung

Unsere Gesetzgebungspraxis ist immer noch zu stark in den Strukturen des analogen Zeitalters verhaftet. Oftmals denken die Akteure digitale Prozesse bei Gesetzesvorhaben nicht mit. Abläufe werden erst im Nachhinein sowie über das Knie gebrochen digitalisiert. Das lässt sich gerade bei zeitkritischen Projekten, wie staatlichen Förderprogrammen in der Energiekrise oder der Wohngeldreform, immer wieder beobachten. 

Bei neuen Vorhaben, etwa der avisierten Kindergrundsicherung, sollte sich dieser Fehler nicht wiederholen. Wir brauchen daher einen neuen Ansatz, Gesetze entstehen zu lassen. Dabei geht es nicht (wie im Falle der mittlerweile stark angewachsenen Gesetzesvorblatt-Prüfungen) lediglich darum, auf welche politischen Sachbereiche sich ein Gesetzentwurf auswirkt. 

Wir verstehen darunter vielmehr, dass die Gesetzgebungsorgane sich selbst auferlegen, nur solche Vorschriften auf den Weg zu bringen, die auch mit einem entsprechenden IT-Verfahren hinterlegt sind und in denen der Verfahrensablauf digital abgebildet wird.

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Wie die Praxis in unserem Nachbarland Dänemark zeigt, braucht es dafür eine teamorientierte Verzahnung der Vollzugs-, Digital- und Prozess-Expertise im frühen Stadium der Gesetzesgenese. Dieses Zusammenwirken sollte die jeweils politisch gewünschten Zielvorgaben in digitalkonforme Regelungen übersetzen sowie technischen Sachverstand – insbesondere in Gestalt von Entwicklerteams – einbinden, um so konsistente digitale Verwaltungsverfahren von Grund auf standardisiert zu entwickeln. 

In diesen Verfahren sollten unbedingt auch die Landesverwaltungen früh eingebunden sein, um digitale Prozesskenntnisse und Vollzugsblickwinkel zu integrieren. Denn am Ende gilt auch hier: Wenn die Verwaltung digital erfolgreich agieren will, muss sie auch digital denken.

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