Die verschwiegenen Baustellen der Rentenpolitik Kommt nun die Rente mit 72?

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Sozial benachteiligt = niedrigere Lebenserwartung


Dazu kommt: Das Risiko, vorzeitig aus gesundheitlichen Gründen den Job verlassen zu müssen, ist ungleich verteilt. Wer das Pech hat, in einer sozial benachteiligten Familie geboren zu werden, hat im Durchschnitt eine niedrigere Lebenserwartung. Schlecht Ausgebildete sterben früher. Auch ist bei bestimmten Berufen die Lebenserwartung geringer. Sie werden wiederum überwiegend von Menschen aus eher sozial nicht so guten Verhältnissen ausgeübt. Sie alle leben kürzer. Es wäre daher gerechtfertigt, so Wagner, ihnen eine höhere Rente zu zahlen, als es den von ihnen eingezahlten Rentenbeiträgen entspricht.

Eine ähnliche Problemgruppe sind die Langzeitarbeitslosen. Auch ihr erhöhtes Armutsrisiko verbindet sich oft mit einer verminderten Lebenserwartung. Ihre kürzere Rentenbezugsdauer würde es daher aus Wagners Sicht grundsätzlich rechtfertigen, ihre – in der Regel sehr niedrigen Renten – aufzustocken.   Zumindest aber wäre zu überlegen, dass der Bund für Hartz-IV-Empfänger wieder Beiträge in die Rentenversicherung zahlt. Diese Beitragszahlung wurde 2004 abgeschafft. Seither erwerben Hartz-IV-Empfänger keine Rentenansprüche mehr.

Auch für Alleinerziehende und  Teilzeitbeschäftigte sieht der Vorsitzende des Sozialbeirats Handlungsbedarf. Bis 1992 gab es die Rente nach Mindesteinkommen, mit deren Hilfe niedrige Rentensprüche so angehoben wurden, als hätten die Betroffenen mindestens Dreiviertel des Durchschnittseinkommens verdient. Würde sie wieder eingeführt, würden vor allem Alleinerziehende davon profitieren.  

Rentenversicherung: Entwicklung der Kapitalabfindungen seit 2005

Auch eine Sockelrente würde helfen, wie sie SPD, Linke und Grüne in unterschiedlicher Ausgestaltung in ihren Wahlprogrammen gefordert haben. Die Chancen dafür, dass die Koalitionäre sich auf derlei verständigen werden, hält Wagner freilich für gering, da damit besonders tief in den Grundsatz der Äquivalenz von Beitrag und Leistung eingegriffen würde. Das wäre bei einer Erhöhung der Erwerbsminderungsrenten wegen der kürzeren Lebenserwartung der Menschen, die davon profitieren würden, gerade nicht der Fall. Nach dem Äquivalenzprinzip entscheidet grundsätzlich die Menge und die Höhe der eingezahlten Beiträge über die spätere Höhe der Rente.

In einer anderen Grundsatzfrage künftiger Rentenpolitik, die im Wahlkampf eine Rolle gespielt hat, stellt sich der Vorsitzende des Sozialbeirats auf die Seite der linken Parteien. Wagner spricht sich zwar nicht für eine Stabilisierung der Rentenhöhe auf dem heutigen Durchschnittniveau von 48 Prozent des Nettoeinkommens für Steuern aus, wie SPD und Grüne es fordern. Er hat aber viel Sympathie für das Rentenkonzept, das die scheidende Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) im November vergangenen Jahres vorgelegt hat. Es sieht vor, dass das Rentenniveau künftig nicht unter 46 Prozent sinken und der Rentenbeitrag nicht auf mehr als 25 Prozent steigen soll. 

Auf welches Konzept man sich am Ende auch verständigt: Klar müsse den Unterhändlern der Koalitionsverhandlungen sein, dass man das Rentenniveau nicht einfach immer weiter absinken lassen könne, wie es die jetzige Rechtslage vorsieht. Die Rente eines langjährig Versicherten müsse vielmehr auch in Zukunft deutlich oberhalb der Sozialhilfe liegen. „Ist eine Normalrente nicht erkennbar höher als die allgemeine Grundsicherung, dann ist die obligatorische lebenslange Beitragszahlung nicht mehr legitim“, so Wagner.

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