Einblick

Postfaktische Zeiten als kollektive Selbsthypnose

Die deutsche Politik ist im postfaktischen Zeitalter angekommen – und nicht erst, seit auch Angela Merkel davon spricht. Darin hat sich die globale Wirtschaft längst eingerichtet.

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Angela Merkel. Quelle: AP

Nun ist auch Deutschland in postfaktischen Zeiten angekommen. Offiziell erklärt wurden sie in dieser Woche durch Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie nahm am Montag in Berlin ausführlich zu ihrer Flüchtlingspolitik Stellung, gestand Fehler ein und begründete die Diskrepanz zwischen Politik und ihrer Wahrnehmung: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten“, so Merkel. „Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“

Was früher die Umfrageinstitute waren, ist heute das Gefühlsbarometer. Es misst auf unklarer Datenlage unklare Befindlichkeiten einer unbestimmten Gruppe von Menschen. Mit dem gefühlten Ergebnis werden hitzige Debatten vom Zaun gebrochen, in der die Beteiligten ihre Position gefühlt täglich wechseln, um zu einem unbestimmten Ergebnis zu gelangen, mit dem man sich kurzfristig gut fühlt. Ist das neu? Keineswegs.

Die internationale Finanzwirtschaft feierte sich im postfaktischen Zeitalter über Jahre mit strukturierten Produkten und der Entkoppelung von Risiko und Haftung. Bis dann am 15. September 2008 mit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers die Realität eine gnadenlose Schneise der Wertvernichtung in die Märkte schlug. Sie reicht bis heute.

Die Eindämmung der Staatsschuldenkrise beruht zu einem wesentlichen Teil auf der kollektiven postfaktischen Selbsthypnose, dass eine Europäische Währungsunion ohne eine politische Union funktionieren könne. Dass die EU-Konvergenzkriterien Näherungswerte oder freundliche Empfehlungen seien. Dass Griechenland jemals ohne einen Schuldenschnitt wirklich wieder auf die Beine kommen könne.

Die Brexit-Befürworter in Großbritannien haben ihren knappen Sieg auch mit dem Argument errungen, das Land zahle wöchentlich 445 Millionen Euro an die EU. Schlicht falsch, weil weder Zahlungen der EU an Großbritannien noch der Britenrabatt eingerechnet sind. Machte aber keinen Unterschied.

US-Präsidentschaftskandidat Donald Trump darf das Nordamerikanische Freihandelsabkommen als „schlechtesten Deal aller Zeiten“ bezeichnen. Glaubt ihm das jemand? Auch der Glauben ist in postfaktischen Zeiten angekommen: Er besteht nicht mehr in faktischer und emphatischer Überzeugung, sondern im Wellenreiten auf Meinungsströmungen, mit denen sich Energie abführen lässt – gegen alles, was in dieser Welt als Zumutung empfunden wird.

Die Bundeskanzlerin hat dem postfaktischen Zeitalter der Gefühle übrigens ihr eigenes entgegengesetzt. Sie hat „das absolut sichere Gefühl“, dass wir aus dem Schlamassel besser herauskommen, als wir hineingeraten sind. Ein absolut sicheres Gefühl – das ist das Höchstmaß an Faktizität und Geltung, das im postfaktischen Zeitalter vorstellbar ist.

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