Fachkräftemangel „Wir haben uns mehrfach gefragt: Müssen wir woanders hin?“

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Alleinstellungsmerkmal in der Region

„Es ist insgesamt nicht davon auszugehen, dass die Corona-Pandemie und ihre längerfristigen ökonomischen und sozialen Folgen die Urbanisierung bremsen […] werden. […] Die Anziehungskräfte von Metropolen und Stadtregionen werden in längerfristiger Perspektive nicht geringer werden. Ein differenzierter Arbeitsmarkt, ein breit gefächertes Angebot an Infrastrukturleistungen, große ethnische Communities, das individuelle Freiheitsversprechen oder der Reiz von kultureller und sozialer Diversität werden auch zukünftig Pull-Faktoren sein, die Wanderungsentscheidungen prägen.“
- ILS-Impulse 1/20

Wäre das nahe gelegene Karlsruhe der bessere Standort für das Unternehmen, mit seinem starken Informatik-Fokus am Institut für Technologie? Oder sollte das Start-up gleich nach Berlin ziehen, wo viel mehr Entwickler zur Verfügung stehen? Das waren die Fragen.

Die Sevdesk-Gründer aber entschieden sich, in Offenburg zu bleiben. „In Berlin hat man das Zehnfache an Abwanderungsraten“, glaubt Silberer. „Da machen viele einen Job ein halbes Jahr und ziehen weiter.“ Für sein Geschäftsmodell benötige er aber Mitarbeiter, die langfristig bleiben. Es brauche Zeit, um das Steuerrecht zu verstehen, die Software entsprechend zu gestalten und verkaufen zu können.

Sein Unternehmen profitiert in der Region zudem von einem klaren Alleinstellungsmerkmal, so sieht es Silberer. In Offenburg könne man bei Burda arbeiten, bei Edeka, bei Mittelständlern. Wer aber Start-up-Kultur suche, etwas „reißen will“, der komme an Sevdesk nicht vorbei – und daher oft in sein Unternehmen.

„Auch im Hinblick auf die allgemeine Attraktivität einer Region bestehen für die ländlichen Räume häufig Nachteile. Eine schlechtere Ausstattung mit Bildungseinrichtungen sowie mit Einrichtungen zur Gesundheits- und Daseinsvorsorge mindert die Attraktivität dieser Räume für den Zuzug von Fachkräften, die für die Unternehmen vor Ort von großer Bedeutung sind.“
- Stiftung Familienunternehmen, Die Bedeutung der Familienunternehmen für ländliche Räume, 2020

Um in etwa 18 Monaten tatsächlich 200 Leute zu rekrutieren, reicht es allerdings nicht mehr aus, vor allem Menschen anzuziehen, die schon in der Region leben. Das weiß auch Silberer. Und Jessica Bührle soll ihm dabei helfen. Bührle ist als Personalmanagerin bei Sevdesk für Menschen und Kultur zuständig. „Die Zeiten des Post and Pray sind vorbei“, beschreibt sie ihre Aufgabe – also die Momente, in denen es noch reichte, eine Stellenanzeige zu schalten und dann darauf zu hoffe, dass sich schon ausreichend passende Bewerber melden würden.

Josch Durand, Jessica Bührle, Fabian Silberer (v.l.) Quelle: PR, Martin Schengel

Bührle hat selbst in einem ganz anderen Umfeld angefangen, sich zunächst in einer Bank zur Finanzassistentin ausbilden lassen. „Nicht meine Welt“, sagt sie heute, zum Beispiel das: sich für den Job andere Kleidung zulegen zu müssen. Sie ist daher Anhängerin der Sevdesk-Philosophie „Sei du selbst“, eine Art Kalenderspruch, der allen Mitarbeitern verspricht, während der Arbeit der gleiche Mensch sein zu dürfen, der sie nach Feierabend sind. 

Statt nur auf Bewerber zu hoffen, recherchieren Bührle und ihre Kollegen jedenfalls in Berufsnetzwerken nach möglichen Kandidatinnen und schreiben sie auf deren jeweilige Situation zugeschnitten an – warum man zueinander passen könnte, wo Gemeinsamkeiten zum Unternehmen sind. 

Natürlich ist auch ihr klar: Wenn, wie 2019, 124.000 Stellen für IT-Experten offen sind, haben die die freie Wahl – „und Offenburg kennen sie als Standort vielleicht nicht“.

Bührle wirbt dann mit der Familienfreundlichkeit, mit dem guten Angebot an Kita-Plätzen, der Sicherheit, der Nähe zur Natur und den vielen Freizeitmöglichkeiten. Und sie lädt interessierte Fachleute und ihre Familien ein, ein, zwei Tage nach Offenburg zu kommen, um sich einen Eindruck zu machen, vielleicht auch Straßburg, Freiburg oder den Schwarzwald zu erkunden. „Natürlich muss beides überzeugen“, sagt Bührle, „das Unternehmen und die Stadt.“ Aber wenn das Unternehmen überzeuge, sei das schon ein wichtiges Pfund. 

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