Fachkräftemangel „Wir haben uns mehrfach gefragt: Müssen wir woanders hin?“

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Die Kosten für den Umzug werden übernommen

„Wenn Unternehmen keine geeigneten Fachkräfte vor Ort finden, sollten sie ihre Suchstrategie regional erweitern. Dies sollte durch Unterstützungsmaßnahmen bei der Wohnungssuche und bei der Integration im Alltag begleitet werden. Hilfreich ist es auch, im Unternehmen Mentoren für mobilitätsbereite Neueinsteiger bereitzustellen.“
- KOFA-Studie 2/2017

Die Einladung an den Unternehmenssitz ist Teil eines Umzugspakets, das Sevdesk für potenzielle neue Mitarbeiter schnürt. Das Unternehmen trägt auch die Kosten für Makler, Umzugsunternehmen und die Malerarbeiten in der alten und neuen Wohnung, wenn Menschen für den neuen Job aus mehr als 100 Kilometer Entfernung umziehen. Es bezahlt für zwei Besuche am neuen Standort, beispielsweise für Wohnungsbesichtigungen, und gewährt zwei Tage Sonderurlaub für den Umzug. Außerdem helfen die neuen Kollegen bei der Suche nach Kinderbetreuung und einem Job für den mitziehenden Partner.

Doch nicht nur neue Fachleute sollen angelockt werden. Auch darüber, Mitarbeiterinnen zu halten, hat sich Chef Fabian Silberer einige Gedanken gemacht. Natürlich steht bei Sevdesk der obligatorische Start-up-Tischkicker, liefert ein Bote Pizza für alle zum Mittagessen.

Nächster Halt: Aufbruch

Fahrt durch eine unterschätzte Republik

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Mitarbeiter dürfen frei wählen, mit welchen Rechnern und Betriebssystemen sie arbeiten wollen. Jedes Jahr stehen ihnen 1500 Euro zur Verfügung: Geld, mit dem sie sich fortbilden können. Außerdem werden alle, nicht nur Führungsleute, geschult, Gehaltsverhandlungen zu führen. „Wir machen auch alle Unternehmenskennzahlen transparent“, sagt er, „nur die Gehälter nicht.“

Trotzdem erwartet Silberer, auch künftig nicht alle seine Wunschkandidaten nach Offenburg locken zu können. Nun, wo man deutschlandweit nach Experten suche, stelle man sich darauf ein, dass manche an ihrem Wohnort bleiben und von dort arbeiten möchten. „Unser Ziel ist es, dass die Leute zu uns kommen – aber es ist kein Muss.“

„Die Metropolen wachsen immer noch. Die Gründe für das Wachsen haben sich jedoch geändert: von 2006 bis 2011 war Wachstumstreiber die innerdeutsche Wanderung, heute wird die Urbanisierung vor allem durch Ausländer getrieben. […] Die Eltern mit Kindern und Rentner zieht es stärker ins Inland. Bei den jungen Erwachsenen (zwischen 18 und 30 Jahren), welche typischerweise die einzige Altersgruppe ist, die zu dem Bevölkerungswachstum der Metropolen durch Wanderung aus dem Inland einen positiven Beitrag leistet, kehren mehr Leute den Großstädten den Rücken.“
- Der Landkreis 1-2/2017, Wanderungssalden der deutschen Metropolen, von: Konstantin A. Kholodilin, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung

In dieser Hinsicht ist Josch Durand ein Wunschmitarbeiter. In Essen aufgewachsen, zog er zum Studium nach Berlin – für ein gutes Jahrzehnt sein „absoluter Lebensmittelpunkt“, wie er sagt. Aber mit Anfang 30 kühlte seine Begeisterung ab. Er habe immer größere Probleme gehabt, sich in der Stadt zu verankern, Berlin habe nicht mehr das geboten, was er suchte. Gemeinsam mit seiner Lebensgefährtin entschied Durand, nach Süddeutschland zu ziehen. Von Motorradurlauben kannten sie den Schwarzwald, mochten, dass die Menschen dort freundlich grüßten.

Aufs Land wollte der Mediengestalter zunächst trotzdem nicht. Er ging nicht davon aus, dort eine Stelle zu finden. Daher bewarb er sich in Freiburg. Der Algorithmus einer Internetjobbörse schlug ihm allerdings hartnäckig Offenburg als Standort vor, „obwohl das nicht in meinem Radius lag“, erinnert sich Durand. Es war eine Stelle bei Sevdesk, in der Beschreibung fand er sich wieder. „Zur Not pendele ich von Freiburg“, habe er sich gedacht und sich beworben.

Durand ist aus dem heimischen Arbeitszimmer zugeschaltet. Er trägt große weiße Kopfhörer, hinter ihm steht ein 3-D-Drucker. Das Gespräch findet vor dem Besuch in Offenburg statt, weil Durand einige Wochen Elternzeit nehmen wird. Heute leitet er Sevdesks Kreativteam mit fünf Mitarbeitern, verantwortet den visuellen Auftritt des Unternehmens. „In Berlin halten sich so manche Start-ups, weil sie Glück hatten; nicht, weil sie eine Vision haben“, findet er.

Dort herrsche oft eine Kopf-durch-die-Wand-Mentalität, viele Chefs drückten ihre Ideen von oben nach unten durch. „Hier empfinde ich die Führungskultur als fortschrittlicher und professioneller“, sagt er. Er könne sich selbst organisieren, wisse, welchen Beitrag seine Arbeit zum großen Ganzen leiste.

Durand lebt übrigens wirklich nicht in Offenburg. Sondern in einem noch kleineren Ort, „Offenburgs Speckgürtel“, wie er sagt. Er grinst. Er habe keine Bedenken gehabt, aus der Hauptstadt dorthin zu ziehen, eine neue Region, neue Leute kennenzulernen. Eine Kollegin habe ihm den Tipp gegeben, dafür in einen Verein einzutreten. Wegen Corona sei das nicht möglich gewesen. „Aber wir werden das noch umsetzen“, sagt er. Er freue sich darauf.

Mehr zum Thema: Dieser Artikel ist der Auftakt zu einer Serie zur Bundestagswahl 2021. Wir folgen der längsten IC-Strecke Deutschlands – vom Südwesten bis in den Nordosten. Nächster Halt: Aufbruch – Fahrt durch eine unterschätzte Republik

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