Seine Feinde empfinden die Unbestimmtheit des Freiheitsbegriffs, die ihn auszeichnet, als Provokation ihres Weltverbesserungswillens - und dringen auf seine sozialmoralische Anreicherung. Und seine falschen Freunde verwechseln das Ideal der Selbstbestimmung, das ihn adelt, mit materieller Selbstbefriedigung - und verraten Authentizität und individuelle Freiheit ein Leben lang durch konfektionierten Konsum, berufliche Funktionalität und gesellschaftliche Selbsteinpassung. Offenbar sind wir alle zu schwach, um es auf Dauer mit der ambitionierten Gehaltlosigkeit des Liberalismus aufnehmen zu können.
Der Konservativismus und die Sozialdemokratie kennen derlei Probleme nicht. Beide politische Stilrichtungen verfügen über akklamationsfähige Inhalte, beide haben den Menschen etwas Bejahbares anzubieten, eine Projektionsfläche - eine Identität. Die Konservativen schöpfen aus dem reichen Reservoir der (nationalen) Kultur und Geschichte. Sie bauen auf Bewährtes, hüten die Tradition und pflegen die alten Werte, sie achten die Erfahrung, hegen überlieferte Ordnungen und vertrauen auf die zivilisierende Kraft gewachsener Institutionen.
Noch besser liegen die Dinge bei den Sozialdemokraten. Die haben immer die Zukunft, den Fortschritt und das große Ganze im Blick, die Gesellschaft, den Staat und den Weltfrieden. Sie erheben Utopia zum allgemeinen Menschheitsziel und dienen sich uns als Navigatoren auf dem Weg dorthin an; sie erobern täglich eine bessere Welt und eine schönere Zeit, immer unterwegs für uns und die gute Sache, angetrieben von der erneuerbarsten aller politischen Energien, der „Sozialen Gerechtigkeit“.
Allein der Liberalismus, der lässt uns im Stich. Der hält uns hinein in die Welt, wie sie ist und wir sie vorfinden - und gibt uns einen Stups. Der erteilt uns keine Ratschläge und weist uns keine Richtung, der gibt uns keinen Wink, kennt weder Herkunft, Weg noch Ziel. Der Liberalismus ist eine einzige Zumutung. Er zwingt uns die Freiheit auf, irgendwas aus ihr zu machen. Sie zu nutzen oder nicht.
Es fällt uns heute sehr schwer nachzuvollziehen, dass dieser durch und durch negative Freiheitsbegriff des Liberalismus einmal revolutionär aufgeladen war, dass sich mit ihm ein ideengeschichtliches Einmalereignis verbindet, eine gedankliche Innovation, die das Denken der Menschen vor zwei-, dreihundert Jahren erleuchtete und die politischen Verhältnisse auf den Kopf stellte. Der Liberalismus war damals eine politische Lehrformel, randvoll gefüllt mit fortschrittsbereiter Leidenschaft und hochfliegenden Hoffnungen, überall in Europa - ein avantgardistisches Programm, das praktisch auf die Begrenzung der absoluten Königs- und Fürstenmacht und die Überwindung des Feudalzeitalters zielte und theoretisch die zentralen Fragen der Neuzeit aufwarf: In welchem Verhältnis sollten künftig Gleichheit und Freiheit zueinander stehen, Individuum und Staat, Eigentum und Verantwortung?
Dabei bringt der Liberalismus von Anfang an das Kunststück fertig, das scheinbar Gegensätzliche spannungsreich in eins zu denken. Selbstverständlich stellt er die natürliche Gleichheit der Menschen der Freiheit voran, weil diese jene zur Bedingung hat. Und doch ist ihm zugleich nichts heiliger als die individuelle Freiheit, weil sich in ihr die Würde des Menschen ausdrückt. Ohne ihre innerliche und äußerliche Verfasstheit wiederum ist die Freiheit den Liberalen nichts wert: Die Energie, die sie entfaltet, will in zivilisierten Gesellschaften beherrscht sein und regiert werden, damit sie der Freiheit der anderen nicht in die Quere kommt. Gesichert ist die individuelle Freiheit daher nur, wenn es einen unparteiischen Rechtsstaat gibt, der die Freiheit aller sichert - und wenn „Eigentum“ in des Wortes anspruchsvollster Bedeutung gedacht wird: als Synonym für verantwortungsvollen Selbstbesitz. Bereits John Locke, der geistige Urvater des Liberalismus, trennt in seiner zweiten „Abhandlung über die Regierung“ (1690) scharf zwischen verantwortlicher Selbstaneignung (property) und dem Erwerb von materiellem Eigentum (estate, posession) - und erklärt die pflichtbewusste Inbesitznahme der property zur Zentralkategorie des Liberalismus, von der sich das Recht auf „life, liberty, and estate“ ableitet.
John Locke entwickelt hier unter dem Eindruck der Glorious Revolution (1688/89), die dem englischen Absolutismus ein Ende setzt und das Parlament zum Träger der Staatssouveränität auf der Grundlage der Bill of Rights erhebt, den wirkmächtigen Gedanken vorstaatlicher, unveräußerlicher Individualrechte. Dabei greift er einerseits auf die christliche Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott zurück, andererseits auf das humanistische Ideal der menschlichen Selbsterschaffung. Die Menschen, so Locke, seien von Natur aus mit elementaren Freiheitsansprüchen ausgestattet, die keine irdische Macht in Frage stellen dürfe. Der Staat sei nur ein Zweckverband zum gegenseitigen Schutz von „life, liberty, and estate“, nicht mehr und nicht weniger, ein Garant bürgerlicher, vorstaatlicher Freiheitsrechte, ohne positive Funktion und Bestimmung - nicht dazu da, um das Gemeinwohl zu fördern, sondern um allen Bürgern den Ertrag ihrer persönlichen Leistung (ihr Eigentum) zu sichern.
Es sind Gedanken, die auch ein knappes Jahrhundert später noch taufrisch sind und fast wörtlich in die Unabhängigkeitserklärung der USA (1776) einfließen: „We hold these truths to bei self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness.“ Wobei das „Streben nach Glück“ im Sinne Lockes unbedingt zweifach betont werden muss: als Streben nach Glück - und als Streben nach Glück (happiness) im Sinne von Eigentum - nicht Reichtum (fortune).
Der Zwang echter Freiheit
Wie emphatisch die Erklärung der Unabhängigkeit damals als „Freiheit zum Ich“ und als „Verantwortung zur Besitzergreifung“ der eigenen Persönlichkeit aufgefasst wird - davon gibt in jenen Jahren vor allem Immanuel Kant eindrucksvoll Zeugnis ab. Freiheit, so der Königsberger Philosoph in seiner berühmten Antwort auf die Frage, was „Aufklärung“ sei, beinhalte nicht nur das Recht auf eine eigene Meinung und Selbsttätigkeit, sondern auch die Pflicht, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen“ zu bedienen. Kant macht darauf aufmerksam, dass echter Freiheit ein Zwang innewohnt: Sie will ergriffen werden und gekonnt sein. Die Freiheit, die er meint, besteht darin, dass wir unser Denken und Handeln autonom bestimmen können - und müssen. „Sapere Aude!“, ruft der Königsberger Philosoph 1784 seinen Mitmenschen zu: Findet endlich einen Weg raus aus eurer selbstverschuldeten Unmündigkeit!
Kant ist ganz hingerissen vom Ethos eines unternehmenden Selbstdenkens, das sich nicht an fixiertem Wissen orientiert und nach katalogisierbaren Wahrheiten Ausschau hält, sondern den bunten Widerstreit von Perspektiven und Sichtweisen auf Dauer stellt. Die Pluralität der Meinung, die mit der Ausbildung individueller Freiheiten einher geht, scheint ihm der rechte Impfstoff zu sein gegen den dogmatischen Rationalismus vieler rechtgläubiger Aufklärer. Kant wendet sich entschieden gegen die Apodiktik derer, die sich allein im Besitz der Vernunft wähnen, ganz gleich, ob sich ein Monarch mit ihr ausgestattet meint oder eine demokratische Wissensgesellschaft. Ohne Vielfalt, Fülle und Farbigkeit der Gedanken, Urteile und Tätigkeiten, so Kant im Vierten Satz seiner „Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), ohne Streit, Einspruch und Widerrede „würden in einem arkadischen Schäferleben bei vollkommener Eintracht, Genügsamkeit und Wechselliebe alle Talente auf ewig in ihren Keimen verborgen bleiben“ - und „die Menschen, gutartig wie die Schafe, die sei weiden… ihrem Dasein kaum einen größeren Wert verschaffen, als dieses ihr Hausvieh hat“.
Die französische Revolution lehrt die liberalen Aufklärer fünf Jahre später, dass die Freunde der Vielfalt im Arkadien der Gleichheit jederzeit Gefahr laufen, so lange guillotiniert zu werden, bis auch sie sich zu Schafen erklären. Der jakobinische Terror fährt den Liberalen wie ein Schock in die Glieder. Fassungslos verfolgen sie, wie die Verheißung der Freiheit sich in eine „Tyrannei der Mehrheit“ (so Alexis de Tocqueville, 1840) verwandelt - und wie ihre emphatische Gleichheitsidee zum Pleonasmus einer „Volksdemokratie“ verkommt, die einer Herrschaftsclique den Vorwand liefert, im Namen aller despotisch zu sein.
In der Folge (ver-)schärft der Liberalismus nicht nur seine traditionellen Positionen; er gewinnt auch dezidiert politische, kulturkritische und demokratiedefensive Züge. Die Meinung, dass das Volk es nicht nötig habe, seine Macht über sich selbst zu beschränken, ist dahin; die heroische Abwehr von Uniformität, Kongruenz, Gleichklang, Zentralsteuerung und Majoritätsmacht steht künftig im Zentrum liberaler Überlegungen. Die vorrangige Aufgabe von Staat und Regierung bestehe nicht etwa darin, den Mehrheitswillen durchzusetzen und die „Stimme des Volkes“ institutionell zu verkörpern, sondern ganz im Gegenteil: im Erhalt der Meinungsvielfalt und im Schutz von Minderheiten, in der Verteidigung der Vielfalt und in der Stärkung von Familien, Vereinen, Körperschaften, Gemeinden, föderalen Strukturen und kleinen Einheiten.
Unter dem Eindruck der heraufziehenden Massendemokratie und aus Angst vor dem Diktat des „vorherrschenden Meinens und Empfindens“ (John Stuart Mill), in der entschiedenen Abwehr jeder noch so gut gemeinten staatlichen Vormundschaft und zum Schutz der individuellen Freiräume gegen eine egalisierende Politik, die die Menschen ihrer Selbsttätigkeit entwöhnt und zu funktionierenden Maschinenwesen erniedrigt, wird das klassische Repertoire des Liberalismus - unveräußerliche Menschenrechte, individuelle Freiheit, Eigentümlichkeit, Rechtssicherheit - im 19. Jahrhundert durch pädagogische Inhalte, republikanische Elemente und ein Set von Bürgertugenden ergänzt. Dahinter steht die Befürchtung, dass der „Mangel an Reife zur Freiheit“ mit einem „Mangel intellektueller und moralischer Kräfte“ (Wilhelm von Humboldt, 1792) korrespondiert - und dass „die allgemeine Tendenz in der ganzen Welt… dahin“ geht, die „Mittelmäßigkeit zur überlegenen Macht unter den Menschen zu machen“ (Mill). Theoretisch bleiben die Liberalen felsenfest: Der demokratische Wille ist und bleibt ein Aggregat pluraler Ansprüche und persönlicher Interessen - und die Freiheit an sich ein Wert, der keiner positiven Bestimmung bedarf. Als gute Soziologen aber erkennen die Liberalen zugleich, dass die Willensbildung sich in einer modernen Demokratie in einem anonymen, „gesellschaftlichen“ Prozess vollzieht - und rufen zur Befestigung der Freiheit die Tradition (Edmund Burke), die Bildung, die Religion (Wilhelm von Humboldt), das vorbildhafte Beispiel (Mill), das Subsidiaritätsprinzip (Alexis de Tocqueville) sowie die Pflege der Sitten und Gebräuche zu Hilfe.
Wilhelm von Humboldt gibt in seinem „Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen“ (1792) den Ton vor: „Je mehr… der Staat mitwirkt, desto ähnlicher ist nicht bloß alles Wirkende, sondern auch alles Gewirkte“, so seine Warnung - „allein was der Mensch beabsichtet und beabsichten muss, ist ganz etwas andres, es ist Mannigfaltigkeit und Tätigkeit.“ Humboldt fürchtet, dass seine Zeitgenossen sich von dem Gedanken erhoben fühlen, „Glieder eines Ganzen zu sein“ - bereit, sich entwürdigen zu lassen als des Staates „Haufe ernährter Sklaven“. Mit viel Pathos erinnert er an den „wahren Zweck“ des Menschen: „die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte“ - und daran, dass dazu „Freiheit die erste und unerlässlichste Bedingung“ sei.
Das Problem der massendemokratischen Gleichheit
Humboldt meint damit nicht nur die Freiheit zur Ausbildung von Verschiedenheit und Originalität, sondern auch die Freiheit, sich „gleichsam Zugänge von einem zum anderen zu eröffnen“, „durch ununterbrochenes Streben… dessen „Eigentümlichkeit“ zu fassen, sich mit ihm zu verbinden und gemeinsame Ziele zu verfolgen. Kein Zweifel: Humboldts Staat ist ein Staat unabhängiger, starker und - im wahrsten Sinne des Wortes - eigensinniger Bürger, die durch Persönlichkeitsbildung sich selbst gegenüber und dadurch auch für andere laufend schätzbarer werden. „Kraftvolle Charaktere“, so Humboldt, die sich aus freien Stücken zu einem Sozialgewebe verbinden, haben gewissermaßen von Natur aus Interesse an einem Staat, der „sich aller Sorgfalt für (ihren) positiven Wohlstand“ enthält. Bildung, Sittlichkeit und Freiheit stellen für den preußischen Reformer eine Art heilige Dreifaltigkeit wider die Gleichheitsgefahr dar, weil deren Elemente sich wechselseitig bedingen und begünstigen: Wie die „Eigentümlichkeit der Kraft und der Bildung durch Freiheit des Handelns und Mannigfaltigkeit der Handelnden gewirkt wird, so bringt sie beides wiederum hervor.“
Zumindest theoretisch. Denn praktisch sieht John Stuart Mill die Sache der Freiheit bereits 1859 so gut wie verloren. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung, so Mill, die „Verbesserungen der Verkehrsmittel“ und die „Zunahme von Handel und Gewerbe“, haben das Problem der massendemokratischen Gleichheit noch einmal verschärft: „Früher lebten verschiedene Ränge, Nachbarschaften, Gewerbe und Berufe in, man kann sagen, verschiedenen Welten. [Heute] lesen, hören, sehen [alle] dieselben Dinge, gehen an dieselben Orte, richten Hoffnungen und Befürchtungen auf dieselbe Sache… Und diese Angleichung schreitet fort.“
Es ist offensichtlich, dass Mill die Wucht seiner Kulturkritik als Kontrastfolie dient, um seinen (beinah‘) verlorenen Helden, die Freiheit, (noch einmal) umso heller erstrahlen zu lassen. In der Düsternis, mit der sein Gegenwartsbild zeichnet, nimmt er Oswald Spengler vorweg - und bereitet Friedrich Nietzsches Titanen die Bühne: „Energische Charaktere mit großem Format gehören schon jetzt bloß noch in den Bereich der Sage“, so Mill; statt dessen sei es heute „das Ideal des Charakters, ohne markanten Charakter zu sein, jeden Teil der menschlichen Natur, der hervorragt, durch Zusammenpressen zu verkrüppeln - wie den Fuß einer chinesischen Dame.“ Angesichts einer Masse, die ihr Denken frei Haus geliefert bekomme „von Leuten, die ihr sehr gleichen“, sei schon „die bloße Weigerung“, vor der öffentlichen Meinung „in die Knie zu sinken, an sich ein Verdienst“. Den Kampf zwischen Freiheit und Autorität, den Mill zur „Lebensfrage der Zukunft“ stilisiert, stehe auf des Messers Schneide: Es sei an den „Starken“, „Vitalen“ und „Wenigen“, den Vielen ein „Beispiel zu geben für aufgeklärte Lebensführung, besseren Geschmack und Sinn im Menschenleben“ - und es sei an der Regierung, endlich einzusehen, dass „der Wert eines Staates“, dem „Wert der Individuen entspricht, die ihn bilden“. Eile, so Mill, sei geboten, denn „die Forderung, dass alle anderen Menschen uns gleichen sollen, wächst durch die Nahrung, die sie erhält. Wenn der Widerstand wartet, bis das Leben nahezu auf einen gleichförmigen Typus gebracht ist, dann wird man alle Abweichungen von diesem Typ als gottlos, unmoralisch, ja sogar monströs und widernatürlich ansehen.“
Vielleicht sollte es uns hoffnungsfroh stimmen, dass die Liberalen die Gleichheit nun schon seit 150 Jahren unaufhaltsam auf dem Vormarsch wähnen - und dass die Freiheit dennoch nicht totzukriegen ist. Vielleicht liegt die Krise des Liberalismus ja darin begründet, dass er uns seit anderthalb Jahrhunderten nichts Neues zu sagen hat? Dass uns die Liberalen seit den Tagen von Humboldt und Mill in endlosen Reprisen ihrer Formeln und Phrasen einen „Mangel an Reife zur Freiheit“ attestieren - und uns dem immer gleichen Vorwurf aussetzen, wir seien sicherheitsverliebte Herdentiere, die nur darauf warten, sich von einem fürsorglich-paternalistischen Staat auf sattgrüne Weidegründe führen zu lassen? Kann es sein, dass wir das ewige Lamento, wir seien willenlose Schafe, eingeschlossen in den Fangarmen eines bürokratischen Umverteilungsstaates, der sich wie eine Krake über unser Denken, Fühlen und Handeln legt, bis all‘ unsere Eigeninitiative erlahmt ist, einfach nicht mehr hören können? Ist es nicht pure Hoffart des Liberalismus, uns andauernd vorzuwerfen, wir ließen „die Welt“ oder unser „Milieu“ über unseren Lebensplan entscheiden, weil es dazu nichts anderes brauche als „affenartige Nachahmungskunst“ (Mill)?
Tatsache ist, dass die Sache der Freiheit in den westlichen Wohlfahrtsstaaten weder gewonnen hat noch verloren ist. Allein ihre Ambivalenz hat stetig zugenommen. Der wissenschaftlich-technische Fortschritt, die Ausdifferenzierung der Gesellschaft und das wirtschaftliche Wachstum haben ihr einerseits ein schier unendliches Spielfeld eröffnet: „Nie zuvor hatten so viele Menschen so große Lebenschancen wie heute“ (Ralf Dahrendorf) - doch nie zuvor waren wir zugleich von so vielen anonymisierten Prozessen, systemischen Logiken, unternehmerischen Zwängen und politischen Alternativlosigkeiten bedrängt.
Nie zuvor war so viel Weltwissen gesammelt, vernetzt und verbreitet - und nie zuvor die Bereitschaft größer zu normierter Bildung und beruflicher Funktionalität, zu Zerstreuung, konformistischem Medienkonsum und trivialer Freizeitverbringung. Nie zuvor war unsere Gesellschaft so individualisiert, so eingesponnen ins Private, so tolerant und permissiv, breit aufgefächert in Berufe, Hobbies, Vorlieben - und nie zuvor ist der Gesellschaftskörper zugleich so willenlos und gegenwartspolitisch korrekt im Wind der herrschenden Meinung gesegelt, mitgerissen von den modischen Strömungen der Zeit, von der Umverteilungs- und Wohlfahrtswut der sozialen Gerechtigkeitskämpfer (ab 1970er Jahre) über den Deregulierungsfuror und Steuersenkungskannibalismus der Trivialliberalen (ab 1990er Jahre) bis hin zum heutigen Öko-Calvinismus savonarolischer Global-Moralisten.
Ambivalenz von Freiheit und Gleichheit
Keiner hat diese Ambivalenz der modernen Freiheit und Gleichheit schärfer gesehen als Alexis de Tocqueville, der Meisterdenker des Liberalismus, der seine Argumente so trefflich an den Einsprüchen schärfte, die er gegen sich selbst erhob. Seine beiden Schriften „Über die Demokratie in Amerika“ (1835/1840) sind Kunstwerke modernen Widerspruchsdenkens. Tocqueville weist in ihnen eben nicht nur auf die „geistige Herrschaft der großen Zahl“, auf einen anmaßenden (Wohlfahrts-)Staat, die Bürokratie und die Zentralisierung der Verwaltung als größte Gefahren für die Freiheit hin, sondern auch auf einen Individualismus, „der alle Keime der Tugend erstickt“ - und auf die „Liebe zum Wohlstand“, die für Tocqueville „gleichsam das hervorstechende und unaustilgbare Merkmal“ des demokratischen Zeitalters ist.
Das Ziel einer demokratischen Regierung, „die Gesellschaft in einem status quo zu erhalten, der eigentlich weder Niedergang noch Fortschritt ist [und] den sozialen Körper in einer Art von Verwaltungsschlummer zu belassen, den die Verwalter gute Ordnung und öffentliche Ruhe zu nennen pflegen“, so Tocqueville, korrespondiert trefflich mit einem Individualismus, der „jeden Staatsbürger geneigt macht, sich von der Masse zu isolieren und sich mit seiner Familie und seinen Freunden abseits zu halten“. Hellsichtig erkennt Tocqueville, dass der „Fortschritt“ der Demokratie vor allem darin besteht, dass sie im Vergleich zu früheren Herrschaftsformen „den Despotismus vervollkommnet“. Der Despotismus der Zukunft, so Tocqueville, wird „ausgedehnter und sanfter sein und die Menschen erniedrigen, ohne sie zu quälen“ - Tocqueville sieht „eine unübersehbare Menge… gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen…, die Schlaffheit ihrer Sitten, die Weite ihrer Bildung,…, die Milde ihrer Moral, ihre arbeitsamen und geordneten Gewohnheiten“ - und er sieht, wie sich über all‘ diesen Bürgern eine „gewaltige Vormundschaftsgewalt“ erhebt, „die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen…, pünktlich, vorausschauend und gütig“.
Dass diese Sätze heute noch unverändert brauchbar sind, weist nicht nur auf das Genie Tocquevilles hin, sondern auch darauf, dass dem Liberalismus und seiner emphatischen Freiheitsidee ein überzeitliche Kraft innewohnt, die unausrottbar ist. Mag sein, dass wir den Liberalismus heute nicht mehr als Denkinnovation brauchen. Als Weltanschaungs-Mahnmal, das an das Beste in uns erinnert, brauchen wir ihn allemal.
Die modernen Liberalen haben ein Wächteramt inne, das macht sie nicht beliebt, aber unverzichtbar. Sie halten uns den Spiegel vor, um uns die Verluste unserer Sehnsucht nach Größe und Sicherheit, nach Fürsorge und Kongruenz anzuzeigen. Sie warnen uns vor den Smarties, die nach Zentralabitur und Bachelor-Examen streben, um ihre Funktionsintelligenz so schnell wie möglich darauf zu verwenden, jedes Lebensrisiko auszuschalten. Sie sind die Gralshüter einer Freiheit, die Arbeitslose nicht abhängig wissen will von der „Stallfütterung“ des Staates - und sich vor einer Angestelltengesellschaft fürchtet, „deren zentraler Wirtschaftsbegriff das Geldeinkommen und nicht das Eigentum ist“ (Wilhelm Röpke). Sie sind die Kassandras, die nicht müde werden, uns vom „Taschengeld-Staat“ zu erzählen, der uns „mehr und mehr die freie Verfügung über unsere Einkommen entzieht“ - und von der „Pumpmaschine des Leviathan“ (noch mal Röpke), der sich zur Rechtfertigung seiner Existenz unsere Steuermilliarden aneignet, um sie von Singles zu Ehepaaren umzuschichten, von Kleinkindern zu Studenten und von Solardachbesitzern zu Großstadtmietern. Vor allem aber sind sie selbst es, die Wagemutigen und die Lebenskünstler, die unbeirrt ihren Weg gehen, die uns am Beispiel ihrer selbst daran erinnern, dass wahre Freiheit vor allem eins meint: ein Leben, das man spürt.
Wir sind überzeugt, dass die Wahlniederlage der FDP nicht das Ende des politischen Liberalismus bedeuten darf. Die WirtschaftsWoche will darum an dieser Stelle der Freiheit ein Forum geben. Wir werden hier Beiträge unserer Redakteure ebenso veröffentlichen wie solche von Gästen. Wir freuen uns, wenn Sie als mündige, freie Bürger auf unserem Online-Forum öffentlich das Wort ergreifen. Was bedeutet heute Freiheit? Wo ist sie durch den Staat gefährdet? Und wie sollte eine liberale Partei aussehen? Schreiben Sie uns unter www.wiwo.de/forumderfreiheit