Mehr Demokratie wagen Wir brauchen das Mehrheitswahlrecht

Markus C. Kerber, der Jurist und Professor für öffentliche Finanzwirtschaft und Wirtschaftspolitik an der Technischen Universität Berlin, zum deutschen Wahlsystem. Quelle: Presse

Die Neuauflage der GroKo offenbart die Kolonisierung des Staates durch die Parteien. Ein Mehrheitswahlrecht würde den Wettbewerb zwischen Regierung und Parlament wiederherstellen.

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Obwohl seit dem 24. September 2017 feststeht, wer Stimmen verloren und wer solche gewonnen hat, wurde solange über die Neuauflage der ungeliebten und ungewollten GroKo verhandelt, bis die Besitzstände der Parteien gesichert waren. Das Ja von zwei Dritteln der an der SPD-Wahl teilnehmenden Genossen (bei einer Abstimmungsbeteiligung von 78 Prozent) am 05. März 2018 markiert ein Verfallsdatum der deutschen Demokratie. Denn dieser Verhandlungsmarathon ist das Gegenteil dessen, was das Grundgesetz vorsieht, nämlich alsbald eine Regierung zu konstituieren, die sich der Bestätigung des Deutschen Bundestags durch Wahl des Bundeskanzlers stellt, unabhängig vom Ja-Votum der 239.634 SPD Mitglieder.  Das Votum der Genossen, obschon in der Verfassung gar nicht vorgesehen, bestimmt nun schließlich die Kanzlerwahl.

Die Gefahrenlage für die deutsche Demokratie

Bedrohlich an dieser Entwicklung ist die Autonomisierung der Parteien im Staat: Sie und nicht der Wählerwille und schon gar nicht das Parlament bestimmen das Ergebnis der Regierungsbildung. Die entscheidende Frage ist daher: Wie kann institutionell die Kolonisierung des Staates durch die Parteien überwunden werden?

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Doch halten wir zunächst den verfassungsrechtlichen Ist-Zustand fest. Der Parteienstaat beruht im Wesentlichen auf
- dem Parteienprivileg des Artikels 21 des Grundgesetzes,
- einer Mischung aus Mehrheits- und Verhältniswahlrecht, das die Aufstellung der Kandidaten dem Monopol von Parteien anvertraut.

Das Parteienprivileg wurde einst geschaffen, um die Parteien als intermediäre Gewalten zwischen Bürger und Staat fest zu verankern. In der bundesdeutschen Realität sind die Parteien im Parlament Finanzierungsbeschaffer für die mittlerweile megagroßen parteinahen Stiftungen geworden. Diese sorgen ihrerseits dafür, dass abgewähltes politisches Personal recycelt wird. Es ist erstaunlich, wie schnell die Grünen aber auch die die Linke es lernten, das Auf und Ab des politischen Wettbewerbs dadurch auszugleichen, dass man sich im Parlament gemeinsam mit allen anderen Parteien für die großzügige Finanzierung von Parteistiftungen einsetzt.

Die Parteien schwimmen im Geld, solange sie im Parlament sitzen. Für ihre Stiftungen genehmigen sich die Parteien – zu Lasten der Steuerzahler - ständig steigende Haushaltszuweisungen. Mittlerweile sind es fast 500 Mio. Euro jährlich. So ist es mit Art. 21 GG gelungen, eine Politikerklasse zu züchten, diese zu nähren und ihr damit eine berufliche Perspektive zu schaffen, die darin besteht, von Parteipolitik zu leben – solange es der Partei gefällt. Diese Parteipolitikerkaste ist – wie das Wahlergebnis vom 24.9.2017 zeigt – wettbewerbsresistent. Verliert sie ihre Mandate, können die Stiftungen dafür sorgen, finanziell zu überwintern.

Diese Parteienmacht erklärt, warum die Abgeordneten des Bundestags ihre eigene Abdankung als Vertreter der Bürger akzeptieren. So überlassen sie den Apparatschiks und Parteivorderen ihre ureigene Pflicht aus Art. 38 GG, als Vertreter des gesamten deutschen Volkes, also aus der Mitte des Bundestags, eine Regierung zu bilden. Dieser Missstand hat mit den Legitimitätsdefiziten des Parteienstaates bei der demokratischen Repräsentation zu tun.

Mehrheitswahlrecht gegen Parteienallmacht?

So hat das deutsche Wahlsystem zwei Nachteile:

- Da kleinere Parteien nur über Listen Abgeordnete ins Parlament bekommen, wird praktisch auf Parteitagen über die Wahlchancen von Kandidaten entschieden. Diese Listenkandidaten müssen also nur dafür sorgen, einen guten Platz auf der Landesliste zu bekommen, um mit einiger Sicherheit ins Parlament einzuziehen. Der Wähler entscheidet nicht über Personen, sondern über Listen. Dass, wie im Grundgesetz gefordert, auch diese Listenabgeordneten Vertreter des gesamten deutschen Volkes sind und daher dem gesamtstaatlichen Interesse dienen müssen, ist ein illusorisches Postulat. Die Nominierungsmodalitäten derartiger Listenheinis sind   bekannt.  Sie kommen darin zum Ausdruck, dass es heißt: „Herr oder Frau X sitzt für die SPD/CDU/CSU im Bundestag.“
- Das Mehrheitswahlrecht für die direkt gewählten Kandidaten sieht nicht vor, dass ein Mindestquorum erreicht werden muss. Man kann auch mit 25 Prozent der Stimmen im jeweiligen Wahlkreis in den Bundestag kommen, obschon die nächststärkeren Kandidaten 23 und 24 Prozent der Stimmen auf sich vereinigen konnten.

Dies alles gilt es im Interesse einer Demokratie des offenen Wettbewerbs zu ändern. Und zwar durch ein Mehrheitswahlrecht, das in zwei Gängen nur solche Kandidaten in die Parlamente schickt, die in der Stichwahl mehr als 50 Prozent der abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen können. So werden Persönlichkeit und Unabhängigkeit honoriert und die Nominierungsmacht der Parteien relativiert.

Das Kabinett im WiWo-Check
Angela Merkel Quelle: dpa
Helge Braun Quelle: dpa
Olaf Scholz Quelle: dpa
Peter Altmaier Quelle: dpa
Heiko Maas Quelle: dpa
Ursula von der Leyen Quelle: dpa
Hubertus Heil Quelle: dpa

Demokratie verlangt Partizipation der Bürger an der Staatsmacht. Dies gelingt nur, wenn die Bürger bei Abgabe ihrer Stimme darüber bestimmen können, wer die Mehrheit im Bundestag stellt und somit regieren soll. Demokratie bedeutet die Bestimmung der Regierung und nicht die Beauftragung der Parteien – eine Regierung noch dazu unter Missachtung des Wählerwillens – auszuhandeln.  Dies lässt sich nur mit dem Mehrheitswahlrecht erreichen, weil es die Unabhängigkeit der Abgeordneten schützt, die adverse Selektion von Kandidaten durch Parteigremien verhindert und damit dem Bundestag seine eigentlich souveräne Funktion als Kontrollorgan der Regierung zurückgibt. Denn ein Bundestag, der nur als Akklamationsorgan für die Regierung dient, aber (obschon höchstes deutsches Entscheidungsorgan) keine eigenständigen Interessen artikuliert, ist sicherlich nicht im Sinne seiner Schöpfer. Mehr noch:  Es wäre sogar des Nachdenkens darüber wert, ob – ähnlich wie beim US-amerikanischen Kongress – das Parlament eine Größe sui generis wird. Also eine Gegenmacht zur Regierung darstellt, die erst dann wirklich eine Bürgermacht wird, wenn sie sich nicht darauf reduziert, allein den Bundeskanzler zu wählen und die Regierung durch bedingungslose Gefolgschaft zu stützen.

In einem aus direkt gewählten Abgeordneten bestehenden Bundestag hätten die Fraktionsführungen – allesamt Parteihanseln – nicht länger das entscheidende Sagen. Der Bundestag wäre endlich das große nationale Forum politischer Diskussion, der natürliche Gegenspieler zu jedweder Regierung und der geborene Mittler von Bürgermacht und zwar unabhängig von der Parteizugehörigkeit der Abgeordneten.

Dass es heute nur wenige Abgeordnete gibt, die den Anforderungen des freien, nur dem gesamten deutschen Volk verpflichteten Mandats genügen, ist das zweifelhafte Verdienst der Parteien und das Ergebnis des Verhältniswahlrechts. Hätten wir ein Mehrheitswahlrecht, würden Charakter und Kompetenz, Persönlichkeit und Zivilcourage prämiert. Aber um dies zu erlangen, müssen wir uns die Freiheit nehmen, das Parteienprivileg über Bord zu werfen.  Dazu wird man die Kontroverse nicht scheuen dürfen. Denn die Parteien sind allesamt der Meinung, ihnen gehöre der Staat. Aber angesichts der Gefahrenlage für die Demokratie wird das deutsche Volk – demokratisch gereift und selbstbestimmt-  gewiss den Mut aufbringen, von seiner Freiheit als Verfassungsgeber Gebrauch zu machen.

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