
Die geheimen Hanfgewächshäuser liegen einige Kilometer vom Stephansdom entfernt. Am Ziel weist kein Schild auf Bionorica hin – den deutschen Hersteller von Erkältungsmitteln wie Sinupret und Bronchipret, der in Österreichs Hauptstadt Wien Hanf anbauen lässt, um die Schmerzen deutscher Patienten zu lindern.
Bernd Lehner (Name von der Redaktion geändert) wirkt nervös, die Wangen des unauffälligen Mannes, den vom Eindruck her niemand mit Drogen in Verbindung bringen würde, sind gerötet. Lehner ist Versuchsleiter bei der Österreichischen Agentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit, kurz AGES. Die staatliche Stelle, die ansonsten etwa die Sicherheit von Lebensmitteln und Medikamenten überprüft oder Gutachten zur Gentechnik verfasst, baut seit zwei Jahren im Auftrag von Bionorica die Hanfpflanzen an. Denn in Deutschland ist das nach wie vor verboten.
Ausgerechnet Wien. „Ganz Wien ist heut auf Heroin“, sang einst Falco. Psycho-Guru Sigmund Freud hat hier im Selbstversuch Kokain geschnupft. Nun also eine versteckte Hanfplantage.
Medizin statt Kifferspaß
Noch nie zuvor durfte ein Journalist einen Blick in die staatlich kontrollierten Cannabisgewächshäuser werfen; jetzt scheint Lehner dabei unwohl zu sein. Eine Dreiviertelstunde lang haben er und zwei AGES-Kollegen dem WirtschaftsWoche-Reporter juristische Vorhaltungen gemacht und Bedingungen gestellt: keine Fotos, keine Tonaufnahmen, der genaue Ort darf nicht genannt werden, auch der Name des Versuchsleiters ist bitte zu ändern. Endlich schließt der Mann, der hier nun also Lehner heißen soll, die Eisentür auf, hinter der das Cannabis wächst.
Es riecht leicht süßlich, der fußballfeldgroße Trakt ist menschenleer. Nur vier Mitarbeiter haben hier Zugang. Lehner drückt eine Schiebetür beiseite: Dicht an dicht wachsen auf etwa 50 Quadratmetern etwa 1000 meterhohe Cannabispflanzen. Das dürfte für Zigtausend Joints reichen.
Cannabis als Medizin
Cannabis hilft vielen Schmerzpatienten. Doch die Medikamente kosten schnell einige Hundert Euro im Monat, die oft von den Patienten selbst zu zahlen sind. Ein Kölner Gericht erlaubte einigen schwerkranken Patienten kürzlich, ihr Hanf selbst anzubauen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat dagegen Berufung eingelegt. Die Bundesregierung befürchtet beim Heimanbau eine Schädigung der Patienten, etwa durch Verunreinigungen, heißt es in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion.
382 Patienten dürfen in Deutschland offiziell Hanfblüten über ihre Apotheke beziehen. Die Bundesopiumstelle genehmigt dies erst, wenn alle anderen Schmerztherapien nicht mehr anschlagen. Die 49-jährige Schmerzpatientin Angelika Lingelbach aus Gelsenkirchen berichtet, dass es ihr deutlich besser geht, seit sie das Apothekenhanf raucht; Depressionen und Suizidgedanken sind verschwunden. Für die Selbstzahlerin kommt das teuer: Fünf Gramm kosten 85,95 Euro, das reicht nur für drei bis fünf Tage. Die Blüten kommen aus Holland, die Lieferung klappt nicht zuverlässig.
In Deutschland sind zwei Cannabispräparate zugelassen. Der Vorteil gegenüber reinen Hanfblüten aus der Apotheke liegt in der höheren Qualität und der besseren Verfügbarkeit. Neben Dronabinol von Bionorica hat das spanische Pharmaunternehmen Almirall das Mundspray Sativex auf den Markt gebracht. Es darf aber nur gegen mittlere bis schwere Spastik bei multipler Sklerose bei einigen Tausend Patienten zur Anwendung kommen. Die Kassen übernehmen die Kosten, da Sativex als Arzneimittel gilt, Dronabinol dagegen lediglich als Betäubungsmittel.
Doch um Kifferspaß geht es hier nicht. Immer mehr Mediziner fordern, Cannabis etwa wegen seiner entzündungshemmenden Wirkung gegen bestimmte Formen von Schmerzen und multipler Sklerose stärker zu verschreiben.
„Wir erleben im klinischen Alltag immer wieder, dass es Schmerzpatienten gibt, die vom Einsatz von Cannabinoiden stark profitieren“, sagt etwa Michael Schäfer, Präsident der Deutschen Schmerzgesellschaft. Kranke berichten, dass Schmerzen und Übelkeit nachlassen und dass auch die psychischen Nebenwirkungen weniger heftig ausfallen als bei der Behandlung mit Morphinen und Opiaten. Im Kinofilm „Ziemlich beste Freunde“ lindern Joints die Schmerzen des vom Hals abwärts gelähmten Aristokraten Philippe.
Hanf gibt es erst, wenn nichts Anderes mehr hilft
Bionorica hat es auf Tetrahydrocannabinol, kurz THC, abgesehen, das in der Hanfblüte steckt. Das Familienunternehmen aus der Oberpfalz – Jahresumsatz 232 Millionen Euro, 1300 Mitarbeiter im In- und Ausland – produziert daraus ein Schmerzmedikament namens Dronabinol, das deutsche Apotheker dann noch aus einer THC-Flüssigkeit und einem Lösungsmittel zusammenmixen müssen. Ein Rezept gibt es nur, wenn der Patient ansonsten bereits austherapiert ist. Die Kassen zahlen in der Regel keinen Cent; die Kranken müssen die 600 bis 700 Euro pro Monat selbst tragen.
Versuchsleiter Lehner, inzwischen etwas ruhiger geworden, führt weiter herum. Viele Gewächshäuser stehen leer – doch wahrscheinlich nicht mehr lange. Bionorica-Eigentümer und -Chef Michael Popp hat dafür Verwendung. Der habilitierte Pharmazeut macht es sich seit zwei Jahrzehnten zur Aufgabe, aus den Schätzen der Natur, zu denen eben auch Cannabispflanzen zählen, moderne Medikamente zu machen.