Der plötzliche Erfolg ist auch für den jähen Absturz mit verantwortlich, denn dadurch ist es für die Piratenpartei immer schwieriger, den Wunsch nach totaler Basisdemokratie in der Praxis umzusetzen. Das zeigt sich vor allem bei den Parteitagen, auf denen zwar jeder mitreden kann, der Großteil der Anträge aber allein aus Zeitmangel unter den Tisch fällt.
"Jedes beschissene Delegiertensystem der anderen Parteien ist basisdemokratischer als wir", schimpfte daher der Fraktionschef im Saarland, Michael Hilberer, beim Parteitag in Neumarkt. Auch andere Spitzenpolitiker warben dort massiv für die Einführung einer Ständigen Mitgliederversammlung (SMV), also eine Art permanenten Online-Parteitag.
Liquid Democracy ist eine Illusion
Eigentlich gibt es dafür bereits Liquid Feedback, die Abstimmungssoftware mit der die Piraten so gern für sich werben. Doch kaum ein Thema zeigt so sehr, wie bei den Piraten Anspruch und Wirklichkeit auseinanderklaffen. In der Außenwahrnehmung existiert das Bild der Nerdpartei, die permanent bei Twitter & Co. diskutiert und entscheidet. Doch im Parteialltag ist die gern beschworene Liquid Democracy nur eine schöne Illusion, das zugehörige Programm nutzt nur ein Bruchteil und die Abstimmungen sind zudem nicht bindend.
Das sollte durch die SMV geändert werden, doch der Antrag verfehlte um 23 Stimmen die nötige Zweidrittelmehrheit. In ihrem Ärger darüber merkten viele Piraten gar nicht, dass mit dem Basisentscheid stattdessen etwas Ähnliches beschlossen wurde. "Wir haben jetzt als erste Partei in Deutschland die Möglichkeit, Beschlüsse außerhalb des Parteitags in einem Online-Verfahren zu treffen", jubelt Parteichef Bernd Schlömer. Die Pressemitteilung zu der vermeintlichen Online-Revolution verschickte die Partei allerdings erst vier Tage nach dem Beschluss.
Online-Revolution oder Demokratie-Alchemie?
Das liegt daran, dass die Piraten selbst noch nicht wissen, was sie da eigentlich gewählt haben. Im Prinzip ist es wie der Mitgliederentscheid anderer Parteien, mit dem wichtigen Unterschied, dass auch online über Änderungen des Parteiprogramms abgestimmt werden kann. Allerdings auch klassisch an der Urne oder per Briefwahl – und in einer Mischform. Wie das bei den diskutierfreudigen Piraten praktisch funktionieren soll bereitet vielen Kopfzerbrechen. "Ehrlich gesagt habe ich bislang nicht verstanden, wie dieser Online-Entscheid funktionieren soll", sagt der Berliner Christopher Lauer, eigentlich einer der vehementesten SMV-Befürworter.
"Demokratie-Alchemie" nennt der für Liquid-Feedback zuständige Vorstand, Klaus Peukert, das beschlossene Verfahren. Die Partei habe versucht, einen Stein der Weisen zu bauen. "Ich fürchte, dass der Offlinemodus bundesweit nicht koordiniert werden kann", sagt Peukert. "Allein die möglichen Urnenwahlen werden bundesweit hunderte Helfer benötigen." Er schätzt daher, dass das Instrument nur ein bis zwei Mal jährlich genutzt werden kann. Grundsatzfragen lässt der Vorstand derzeit von Justiziaren prüfen, eine Klausurtagung Ende Juni soll mehr Klarheit bringen.
Kritiker kürzen den Basisentscheid schon spöttisch mit BSE ab, wann der erste Online-Parteitag stattfinden kann steht in den Sternen. Eine Umsetzung mit Liquid Feedback ist wohl nicht möglich, wahrscheinlich muss eine komplett neue Software geschrieben werden. Schon für die reinen Online-SMV-Modelle hatte Peukert ein- bis anderthalb Jahre kalkuliert, für das jetzige Modell wagt er keine Prognose.
Derzeit sucht die Partei zwei Projektleiter für das Vorhaben. Kein leichten Job: Immerhin hat auch einer der Parteijustiziare in einer Stellungnahme für den Vorstand massive Bedenken angemeldet und festgestellt: "So wie wir es jedenfalls beschlossen haben geht es nicht".