Die eigene Wohlstandssituation wird zunehmend zum Hauptfokus, wie eine Studie von Berkeley Ökonomen beweist. Sie zeigt, dass sich seit der Finanzkrise viele Menschen im Zweifelsfall für Effizienz statt für Umverteilung entscheiden. Und die letzte Bundestagswahl gibt den Ökonomen Recht.
Der linke Wahlkampf der SPD und Grünen kam beim Wähler nicht an. Es triumphierte vielmehr die Partei, die ein stabiles Weiter-so und "Keine Experimente" versprach - nämlich die CDU.
Auch jetzt, wo erkennbar wird, dass das Wohlstandswachstum hauptsächlich nur noch bei den reichsten Prozent der Bevölkerung fortschreitet, während es bei Mittelschicht und den prekär Beschäftigten eher stagniert und damit auch die soziale Ungleichheit steigt, ist es dennoch der Mehrheit der Bevölkerung wichtiger, dass ihr eigener Wohlstand nicht kleiner wird. Unabhängig davon, ob andere zunehmend viel größere oder kleinere Anteile des gesamten volkswirtschaftlichen Wohlstandes abbekommen.
Die Geschichte der SPD
Ferdinand Lassalle gründet am 23. Mai den Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein (ADAV) in Leipzig, der Vorläufer der SPD. Das Datum gilt als Geburtstag der deutschen Sozialdemokratie.
Auf einem Parteitag in Erfurt gibt sich die SPD ein neues Programm und wird zur Massenpartei - für die Rechte von Arbeitern.
Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges ruft der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann am 9. November in Berlin die Republik aus. SPD und USPD bilden für kurze Zeit eine Revolutionsregierung.
Nach den Wahlen zur Nationalversammlung wird der Sozialdemokrat Friedrich Ebert Reichspräsident.
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar endet die Weimarer Republik. Die Sozialdemokraten lehnen am 23. März das Ermächtigungsgesetz ab, im Juni verbietet Hitler die SPD. In der Folge werden zahlreiche Sozialdemokraten verfolgt, ermordet und in Konzentrationslagern eingesperrt.
SPD und KPD werden in der sowjetischen Besatzungszone unter Druck zur Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) vereint.
Mit dem Godesberger Programm wandelt sich die SPD im Westen von einer Klassen- zu einer pluralistischen Volkspartei.
Zum ersten Mal ist die SPD in der Bundesrepublik an einer Regierung beteiligt: der Großen Koalition mit der CDU/CSU.
Willy Brandt ist Bundeskanzler der SPD/FDP-Koalitionsregierung. Nach seinem Rücktritt wegen der Affäre um den DDR-Spion Günter Guillaume folgt ab 1974 Helmut Schmidt als Kanzler (bis 1982).
West- und Ost-SPD vereinigen sich zu einer gesamtdeutschen SPD.
Dritter SPD-Bundeskanzler wird Gerhard Schröder (bis 2005). Die SPD regiert mit den Grünen. Mit dem Namen Schröder sind auch die umstrittenen Arbeitsmarktreformen der „Agenda 2010“ verbunden.
Die SPD kommt mit Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier auf nur 23 Prozent der Stimmen und verliert ihre Regierungsbeteiligung. Nach der Wahlniederlage wird Sigmar Gabriel zum neuen Parteivorsitzenden gewählt.
Dieser zunehmende Fokus auf die eigene ökonomische Lage ist aber mitnichten Kapitalismus pur - sondern vielmehr das Gegenteil, nämlich eine neue konservative Kapitalismuskritik.
Sie gedeiht aus der Furcht vor dem Wohlstandsverlust und äußert sich vor allem im Widerstand gegen politischen Wandel. Letztlich mündet sie in der Verteidigung des status quo und der Wahl konservativer Parteien.
Diese neue konservative Wende in der Politik ist eine Form von Kapitalismuskritik, in der sich die Menschen gegen die Unsicherheit auf den globalen Märkten aussprechen. Das neue Prinzip der Mehrheitspolitik in Deutschland scheint Furcht und Sorge zu heißen. Und dem soll mit Stabilitätspolitik begegnet werden.
Der neue Steuerungspessimismus und der Hoffnungsverlust der Mittelschicht sind eine der Hauptgründe des Erstarkens des politischen Status-quo-Konservatismus. Die fast absolute Mehrheit für die CDU/CSU bei den Bundestagswahlen ist dafür nur ein Ausdruck. Auch die Wahl von Rechtspopulisten bei der Europawahl vielerorts in Europa verstärkt den Eindruck eines Konservatismus, der eine große Furcht vor Veränderungen in der Welt ausdrückt.
Dieser Konservatismus ist Ausdruck einer Überforderung. Er ist eine Gegenreaktion gegen eine sich schnell wandelnde und zu komplex werdende Welt, in der sich viele als Verlierer fühlen, weil sie glauben nicht mehr mitzukommen. Der neue Konservatismus ist gerade nicht nur ein elitärer, sondern wird vor allem auch von Globalisierungsverlierern gestützt - und denen, die befürchten, es zu werden.
Und so wird die politische Entscheidung, eher konservativen Parteien die Stimme zu geben, auch eher zu einer Kritik an den Verhältnissen. Sie wird nicht zu einer Kritik, weil die Mehrheit glaubt, dass diese Parteien noch etwas an dieser Lage ändern können. Sondern weil viele Bürger glauben, dass diese Parteien verhindern können, dass es noch schlimmer wird.
Doch genau hier liegt der Fehler. Denn die konservative Wende äußert sich nicht nur in Reformzurückhaltung, sondern auch in Austeritätspolitik. Die Mittelschicht bekommt so weder durch Steuerreformen mehr Netto vom Brutto, noch wird der Sozialstaat so ausgerichtet, dass er jedem vergleichbare Chancen und Förderung ermöglicht.
Das Dogma der Politik ist vielmehr das Sparen. Es ist paradox, warum nach der Krise Stabilitätspolitik gewünscht wird. Denn diese erzeugt im Ergebnis letztlich genau das Gleiche wie die Politik vor der Krise 2008, nämlich den Rückzug des Staates.
Politik ohne Reformeifer
Der Unterschied ist nur, dass durch die konservative Wende der Staat heute positiver bewertet wird als noch vor dem Jahr 2008. Der Staat ist aber nur rhetorisch zurückgekommen, nicht faktisch – wenn man vom Mindestlohn einmal absieht. Die neue Staatsrhetorik bedeutet, dass viele Bürgerliche heute zu leisen Kapitalismuskritikern geworden sind. Und trotzdem wollen sie hauptsächlich Stabilität. Das ist paradox.
Für die politischen Verhältnisse bedeutet dies eine Verschiebung zu einer Politik ohne viel Reformeifer, eine Politik ohne viele Zumutungen. Dies führt zu einer Gesellschaft der Ich-Fokussierten und Besitzstandswahrern. Dieser Trend begünstigt konservative Parteien.
Angela Merkel ist mit ihrem zurückhaltenden Regierungsstil für die konservative Wende die logische Wahl und ihre Beliebtheit sinnbildlich, weil sie niemanden verprellen will, niemanden etwas zumuten will. Für die Sozialdemokratie, aber auch für Freidemokraten bedeutet das ein Dilemma.
Die neoliberale Forderung nach weniger Staat ergibt wenig Sinn, wenn eine konservative Reformzurückhaltung dies de facto realisiert. Vor allem die FDP leidet daran, dass ihre Forderung nach mehr Freiheit für die Wirtschaft niemand mehr erreicht, weil die Parlamente mittlerweile von außen liberalisiert werden; weil politische Eliten sich dem Druck vermeintlich alternativloser ökonomischer Sachzwanglogik beugen; und weil die konservative Zurückhaltungspolitik genau das durch ihren Fokus auf das Sparen sogar noch partiell stützt.
Das Entstehen der AfD
Gründung des „Plenums der Ökonomen“ durch VWL-Professor Bernd Lucke. Ziel: Aufklärung über die Gefahren der Euro-Rettungspolitik.
Das Plenum spricht sich mit großer Mehrheit gegen den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM) aus.
Gründung „Bündnis Bürgerwille“. Unterschriftenaktion für geordnete Staatsinsolvenzen. Unterstützer (u. a.): Bund der Steuerzahler, zahlreiche Bundestagsabgeordnete aus Union und FDP.
Gründung der Wahlalternative 2013. Kooperation mit Freien Wählern. Credo: Deutsche Steuerbürger haften nicht für die Schulden europäischer Staaten.
Niedersachsen-Wahl. Freie Wähler/ Wahlalternative erreichen 1,1 Prozent. Führungsstreit.
Gründung der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD). Ziel: Einzug in den Bundestag. Programm: die geordnete Auflösung des Euro-Währungs- gebietes.
Erste öffentliche Veranstaltung in der Stadthalle Oberursel / Hochtaunuskreis. 1300 Besucher.
Gründungsparteitag in Berlin. Vierseitiges Wahlprogramm. Dreiköpfiges Sprecherteam.
Zahl der Mitglieder übersteigt 10.000. Gründung und Aufbau der Landesverbände.
Bestellung von zwei hauptamtlichen Geschäftsführern. Aufbau einer Mitgliederverwaltung. Vorbereitung eines ordentlichen Parteiberichts.
Nachweis von mindestens 2000 Unterstützer- Unterschriften pro Bundesland. Sonst keine Zulassung zur Wahl.
Bundestagswahl. Ziel: zweistelliges Ergebnis.
Außerdem vermag die FDP es nicht, ihren gesellschaftspolitischen Liberalismus und ihre sozialliberalen Thesen wieder zu reaktivieren. So wird sie schlicht als überflüssig betrachtet. Denn die liberal-konservativen Wähler, die sie jahrelang bediente, sind nun längst zur AfD gewandert und fühlen sich da wohler, weil die AFD nicht die Kälte des Neoliberalismus vertritt, sondern ihn netter erscheinen lässt.
Der Neoliberalismus wird bei der AfD in ein konservatives Weltbild integriert, in dem die Menschen nicht in ihrem ganzen Dasein zum Risiko und Egoismus gezwungen werden, sondern nur als Wirtschaftssubjekte so handeln sollen. Der homo oeconomicus hat bei der AfD Grenzen. Der Privatmensch ist bei ihnen einer, der als Familienmensch enge soziale Bindungen eingeht und als Vereinsmensch sich sozial in die Gemeinschaft einfügt und dort dieser Gemeinschaft dient. Bei der AfD ist der Mensch auch geborgen, was er im Neoliberalismus nie war.
Alles soll so bleiben, wie es ist
Weil die FDP also weder einen liberalen Konservatismus noch einen authentischen Sozialliberalismus vertritt, wirkt sie nutzlos.
Die konservative Wende in Deutschland hat aber auch enorme Auswirkungen auf die Sozialdemokraten. Denn die SPD vertritt nicht authentisch jenen Status-quo-Konservatismus, da sie eine Partei der „Vorwärts-Bewegung“ ist. Sie ist eine Reformpartei, eine Partei des gesellschaftlichen Wandels. Und wenn Veränderung und sozialer Gerechtigkeitsfortschritt nicht gewollt werden, dann hat die SPD ein Problem.
Sie regiert nur dann mit Kanzler und ohne Union, wenn es eine Stimmung in Deutschland gibt, die Veränderungsbedarf sieht und die SPD in die Regierung trägt. Nur Reformwille von unten bringt Sozialdemokraten zum Regieren. Die Deutschen haben diesen Willen offensichtlich momentan nicht. Sie scheinen Sorge davor zu haben, dass Veränderungen schlecht für sie sein können. Sie wollen, dass alles so bleibt, wie es ist.
Wer in Berlin Politik macht
Alter Bundestag (2009-2013): 53
Neuer Bundestag (630 Sitze): 47
Quelle: Stiftung Familienunternehmen
Alter Bundestag (2009-2013): 199
Neuer Bundestag (630 Sitze): 191
Alter Bundestag (2009-2013): 90
Neuer Bundestag (630 Sitze): 106
Der Grund des Dilemmas von Freidemokraten wie Sozialdemokraten ist der Gleiche. Es ist die konservative Wende in Deutschland. Frei- wie Sozialdemokraten sind beide optimistisch gegenüber der Zukunft. Beide glauben daran, dass Veränderungen positiv sein können, auch wenn die politischen Veränderungen, die sie erzeugen wollen, sich oft sehr unterscheiden.
Wenn sie einen gemeinsamen Kern haben, dann bei dem Einstehen für eine soziale Marktwirtschaft und der mit ihr verbundenen Idee der fairen Chance auf ein gutes Leben. Sozialliberale könnten dies im Verbund mit der SPD so interpretieren, dass Chancengleichheit vom Staat gefördert werden müsse, etwa durch mehr Bildungsinvestitionen oder eine Kultur der zweiten und dritten Chance in der Arbeitsmarktpolitik.
Eine Politik, die eben nicht nur auf Fordern, sondern vor allem auch auf intensives Fördern setzt. Auch wenn sich Sozialdemokraten und soziale Freidemokraten in einigen Punkten voneinander unterscheiden, so haben sie doch Wesentliches gemeinsam: Faire Aufstiegsmobilität, Arbeit, die sich auch lohnt, Befähigung der Menschen.
Zudem sind SPD und FDP eher progressiv. Und solche Akteure braucht es, um die Veränderungen zu meistern, die durch demografischen Wandel und Digitalisierung entstehen. Gesellschaftlichen Veränderungen kann man nicht aus dem Weg gehen. Und wenn man es versucht – wie es die konservative Wende andeutet – dann ist das gefährlich für Wohlstand und soziale Gerechtigkeit in Deutschland.
Auf gesellschaftlichen Wandel muss man auch reagieren - und zwar mit politischem Wandel. Politik kann immer noch Dinge zum Besseren wenden. Wenn man es nur will.
Diese progressive Politik könnten auch Sozialdemokraten und Freidemokraten zusammen machen. Dazu müssen sie nicht den gleichen theoretischen Ausgangspunkt und gleichen Weg haben. Sondern sie müssen sich letztendlich nur inhaltlich einigen können, um zusammen zu regieren.