Staatswirtschaft Die Koalition ist auf Geisterfahrt

Seite 5/5

FDP-Finanzpolitiker Wissing, der Anfang Mai das Urgestein Brüderle als Vorsitzender der rheinland-pfälzischen Landes-FDP beerben möchte, hält nichts von einer Neuorientierung, sondern fordert eine Rückbesinnung auf die Klassiker – räumt aber ein, dass seine Partei auf dem versprechensreichen Feld der Steuerpolitik, abgesehen von der Erhöhung des Arbeitnehmerpauschbetrages, bisher kaum Spuren hinterlassen hat.

Ohnehin wäre es ein großes Missverständnis, liberale Politik mit Ausfällen für die Staatskasse gleichzusetzen. Manchmal nutzt sie der Staat sogar, um daraus selbst Kapital zu schlagen. So geschehen bei der Deregulierung des Stromgeschäfts. Diese führte um die Jahrtausendwende zu einem Preissturz von 40 Prozent für Industriekunden und 33 Prozent für Privatverbraucher – allerdings nur bezogen auf den Preis an der Kraftwerksturbine.

Konterrevoluiton

Denn während die Erzeuger ihre Forderungen senkten, sattelte der Staat kräftig drauf. Zwar stiegen auch die Kraftwerkspreise bis heute wieder, im Vergleich zum Startjahr 1998 allerdings nur um acht Prozent (alle Verbraucherpreise legten in dieser Zeit um knapp 20 Prozent zu). Die staatlich verfügten Zusatzlasten – von der Stromsteuer über die Umlagen für erneuerbare Energien und Kraft-Wärme-Kopplung sowie die Konzessionsabgabe bis zur Mehrwertsteuer – schossen dagegen um 138 Prozent in die Höhe.

Zurückgedreht wird auch die Privatisierung, mit der sich der Staat einst von großen Teilen seines Firmenbesitzes trennte. Die Kommunen wollen wieder Zugriff auf die Branchen der Daseinsvorsorge gewinnen – von der Stromerzeugung über Wohnungsbestand und Müllabfuhr bis zur Wasserversorgung.

Der Verkauf der Hälfte der Berliner Wasserbetriebe 1999 gilt Privatisierungsgegnern als abschreckendes Beispiel. Denn die Preise stiegen seitdem doppelt so stark wie im Bundesdurchschnitt und liegen heute "deutlich über den Preisen der Vergleichsgruppe", wie das Bundeskartellamt mit Blick auf Hamburg, Köln und München feststellte. Den Grund ermittelte die Fachzeitschrift "Das Grundeigentum": Der im Zuge des Verkaufs gesetzlich verfügte hohe Kalkulationszins produziert "fiktive Kosten, die gar nicht anfallen, aber den Berliner Wasser- und Abwasserkunden in Rechnung gestellt werden dürfen". 70 bis 80 Cent pro Liter kämen dadurch zusammen, rund ein Viertel des Tarifs. Davon profitiert auch das Land als Miteigentümer und Steuerbehörde. Natürlich darf das Wasserwerk die Preise nicht frei festsetzen, die Genehmigungsbehörde erlaubt den Tarif: Das ist die Umweltsenatorin, also wieder das Land.

Der Fall ist symptomatisch. Kurz war die Phase der ökonomischen Liberalisierung in den Neunziger- und Nullerjahren. Jetzt marschiert die Konterrevolution.

Inhalt
Artikel auf einer Seite lesen
© Handelsblatt GmbH – Alle Rechte vorbehalten. Nutzungsrechte erwerben?
Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%