Sie halten das Werben der politischen Konkurrenz um die „Mitte“ also für Etikettenschwindel?
Wagenknecht: Komplett.
Schroeder: Aber Sie wollen doch auch schon Einkommen von mehr als 72.000 Euro jährlich stärker belasten. Das ist der falsche Weg, die Mitte müsste wirklich entlastet werden. Denn sie ist es, die den ganzen Laden am Laufen hält.
Wagenknecht: Erhebliche Mehrbelastungen gäbe es bei unserem Steuerkonzept erst bei weit höheren Einkommen. Und was noch wichtiger ist: Die Abgeltungsteuer mit einem pauschalen Steuersatz von 25 Prozent ist ein Skandal: Menschen, die von ihrem Vermögen leben, werden privilegiert gegenüber Menschen, die arbeiten. Das wollen wir ändern.
Schroeder:Wieso wollen Sie überhaupt mehr Geld? Was soll daran gerecht sein, dass der Staat mehr und mehr einnimmt – und den Bürgern mehr und mehr wegnimmt? Ich finde, mit Verlaub, Sie fantasieren sich ein ungerechtes, ungleiches Deutschland zurecht. Sie sehen nur Opfer.
Die Einkommensungleichheit ist seit 2005 gesunken. Die OECD kürte die Bundesrepublik und Österreich gerade zu den einzigen beiden Ländern, die seit 2007 die soziale Spaltung verringern konnten. Das sind die Fakten.
Wagenknecht: Diese Fakten werden von vielen Ökonomen angezweifelt. Nach den Vermögensstatistiken sind die Millionärsvermögen seit Jahren deutlich angestiegen, die der Mittelschicht hingegen stagnieren. Das ist für mich ein Indikator wachsender Ungleichheit. Auch der Niedriglohnsektor wächst.
Schroeder: Gerechtigkeit bemisst sich nicht an der Zahl der Millionäre. Und Ungleichheit ist nicht per se problematisch. Eine Gesellschaft, die Wohlstand ermöglichen will, muss Anreize bieten und Durchlässigkeit schaffen. Daran hapert es. Es muss wieder mehr Aufstiegskanäle geben.
Ist das nicht der eigentliche Skandal: Der Sozialstaat wird zwar immer voluminöser, aber die soziale Mobilität hat sich eher verschlechtert?
Schroeder: Absolut. Der Staat muss jedem Aufstiegschancen geben. Der Leistungs- und Wettbewerbsgedanke sollte wieder eine viel größere Rolle spielen – übrigens auch in den Familien.
Wagenknecht: Sinkende Mobilität ist in der Regel die Folge wachsender Ungleichheit. Sehen Sie sich die zunehmende Ghettoisierung der Wohngebiete an. In einigen ist die obere Mittelklasse unter sich, andere werden zu sozialen Brennpunkten mit schlechter Infrastruktur, schlechten Schulen. Am Ende kann eine Adresse schon stigmatisieren. Diese Rückkopplungen finde ich höchst gefährlich.
Kann mehr Geld das Problem denn lösen? Oder andersherum: Auf was könnte man verzichten?
Schroeder: Viele Sozialleistungen und Subventionen sollte man sich kritisch ansehen und die frei werdenden Mittel in Richtung Bildung umlenken. Bessere Schwerpunktsetzung ist dringend geboten.
Wagenknecht: Die Milliarden, um magere Löhne aufzustocken, sind verschleudertes Geld. Das könnte sich der Staat mit einem Mindestlohn sparen. Auch viele sogenannte Maßnahmen für Langzeitarbeitslose sind nutzlos. Da wird fast niemand ernsthaft qualifiziert. Aber bei Hartz IV selbst kann man nicht kürzen – schon heute sind die Regelsätze unerträglich niedrig, besonders für Kinder. Wenn Schüler auf Klassenfahrten verzichten müssen oder die Nachhilfe nicht bezahlt bekommen, dann untergräbt genau das die Chancengleichheit.
Schroeder: Die Hartz-Reformen, die mein Namensvetter mit ö damals eingeführt hat, standen unter der Überschrift „Fordern und fördern“. Sie betonen immer nur das Fördern. Ich bin der Meinung: Man muss auch fordern. Von Eltern kann man verlangen, dass sie sich um ihre Kinder kümmern, und von Erwachsenen, dass sie sich um sich selber kümmern. Es geht um individuelle Leistung und individuelle Verantwortung. Aber um das Fördern nicht ganz zu vergessen: Der Staat sollte Kita-Plätze kostenlos anbieten.
Wagenknecht: Da bin ich ganz bei Ihnen. Aber genau dafür braucht er Geld.