Der Erste: Friedrich Merz
Der Fraktionsvorsitzende der Union im Bundestag machte den Anfang am Dienstag um kurz nach zehn beim Schaulaufen der Spitzenpolitik in Berlin. Als Oppositionsführer hatte es Merz leichter, die Defizite der Regierung zu benennen und Forderungen zu stellen. Zum Beispiel das „Ablegen der Scheuklappen“ beim Thema Energieproduktion – was auf Deutsch nichts anderes heißt als eine Laufzeitverlängerung für die drei noch produzierenden Atomkraftwerke in Deutschland.
Merz beließ es aber nicht bei dieser Provokation für die Grünen und ihren Wirtschaftsminister Robert Habeck, sondern legte noch einen drauf, als er die Verpressung und Speicherung von CO2 in den Boden als Möglichkeit nannte, sich den nicht mehr zu schaffenden Klimazielen vielleicht doch noch zu nähern. Wohl wissend, dass das ein politisches Albtraumthema für jede Regierung ist – viel zu unpopulär.
Fazit: Ein solider Auftritt vor vertrautem Publikum, der noch besser gewesen wäre, wenn Merz seine hinlänglich bekannten Analysen zur Weltlage weggelassen und die knappe Redezeit für eine detailliertere Antwort auf die Frage verwendet hätte, wie das russische Gas denn konkret ersetzt werden könnte. Gesamtnote: 2 minus
Der Klartexter: Christian Lindner
Der Bundesfinanzminister hingegen glänzte mit einer gekonnten Themenmischung. Zuerst ein „mea culpa“ wegen der Geldverschwendung der vergangenen zehn Jahre, die freilich nicht von ihm, sondern von Union und SPD ins Werk gesetzt wurde. Sodann die geschickte Begründung des Reserveoffiziers Lindner, warum die als „Sondervermögen“ getarnte Sonderverschuldung von 100 Milliarden Euro für die trotzdem eine gute Sache ist.
Und schließlich die klar formulierten Botschaften aka roten Linien für die roten und grünen Koalitionspartner. Erstens: Die Bekämpfung der Inflation ist erst einmal wichtiger als die Transformation zur CO2-freien Wirtschaft. Zweitens: Keine neuen Schulden und keine neuen Steuern – seien sie auf Vermögen oder auf Übergewinne; auch keine Erhöhung der bestehenden Abgaben. Drittens: Wir müssen die Schuldenbremse einhalten und dafür sparen, also Prioritäten bei den Ausgaben setzen.
Viertens: Das Verbot des Verbrennungsmotors ist falsch und die Bundesregierung wird in Brüssel dagegen votieren. Fünftens, in Anlehnung an Merz: Keine politischen und ideologischen Vorfestlegungen bei der Energiepolitik. Und schließlich – sechstens – noch eine Botschaft an die versammelte Wirtschaft: Die Zeiten üppiger Subventionen sind vorbei, das gilt auch für die Kaufprämien von E-Autos.
Fazit: Viel klarer kann man als verantwortlicher Politiker nicht formulieren. Gesamtnote: 1
Der Protokollant: Olaf Scholz
Man darf den Redenschreibern (und -schreiberinnen) des Kanzlers gratulieren. Der Kunstgriff, den sie Olaf Scholz in sein Manuskript geschrieben hatten, funktionierte durchaus. Er erinnerte nämlich an seine Rede, die er vor einem Jahr zum selben Anlass gehalten hatte. Seht her, so die Botschaft, ich pflege als Kanzler zu halten, was ich als Kandidat versprochen habe.
Kraftvoller Ausbau der Erneuerbaren? „Das tun wir.“ EEG-Umlage abschaffen? „Das haben wir getan.“ Planungsbeschleunigung? „Das halten wir ein.“ Klimaclub? „Verfolgen wir mit großem Nachdruck.“ Ich rede nicht nur, ich mache: Es ist die Lieblingsposition des SPD-Regierungschefs. 2022, legte er noch nach, werde das „Jahr der Entscheidung“. Er und seine Regierung würden sich „den Schneid nicht abkaufen lassen“.
An Entschlossenheit mangelte es Scholz also wahrlich nicht. Nur besonders konkret wurde er ansonsten nicht. Vor einem Jahr sprach er im Übrigen auch von einem konkurrenzfähigen Industriestrompreis. Dazu am Dienstag kein Wort. Deutschland solle aus dem Wandel gestärkt hervorgehen – davon abgesehen, dass das eine der Lieblingswendungen Angela Merkels war: Von Scholz kam über sein „Mission accomplished“ hinaus nichts wirklich Neues dazu. Dabei hätte man über die gefährlichen „Stromschnellen der Transformation“ gern mehr gehört. Vielleicht ja dann 2023.
Fazit: Kein Auftritt für die Ewigkeit, aber solide. Gesamtnote: 3 plus
Die Geschichte: Robert Habeck
Für einen kurzen Moment bricht Robert Habeck fast die Stimme weg. Er steht auf der ausgeleuchteten Bühne, ohne Zettel, und erzählt von einem BBC-Podcast, den er am Wochenende manchmal beim Joggen hört. Ukrainecast heißt er, voller bewegender, voller schrecklicher Geschichten, die der Krieg schreibt. Nun bewegen sie den Wirtschaftsminister sicht- und hörbar noch einmal. Putin führe Krieg, „weil er die individuelle Freiheit nicht ertragen kann“, ruft Habeck mehr in den Saal als dass er spricht.
Viel ist in diesen Tagen vom großen grünen Kommunikator die Rede. Vom Star der Regierung. Vom philosophischen Pragmatiker. Habeck weiß das natürlich, er spricht es selber offen aus, aber er wäre nicht er, wenn er seine Kritik an solch oberflächlichen Popularitätsrankings („völlig unangemessen“) nicht gleich mit seiner Schilderung eines geradezu existenziellen Kampfes unserer Werteordnung gegen die Diktatur verweben würde.
Der Wirtschaftsminister, das wird an diesem Nachmittag noch einmal deutlich, ist viel mehr als ein Geschichtenerzähler. Nicht nur, weil seinen vielfachen Auftritten immer auch sofort ein ganzes Bündel an Gesetzen, Verordnungen und Entscheidungen auf dem Fuße folgt. Sondern auch, weil niemand sonst es vermag, das Tun der Regierung in die sich gerade vollziehende Geschichte einzubetten.
Ja, es sind historische Tage. Und Robert Habeck treibt nicht nur die Klimakrise an oder die Gasversorgung oder die Zukunft dieses Landes. Er macht den Eindruck eines Mannes, der sich diesen Zeiten unbedingt als ebenbürtig erweisen will.
Fazit: „Wir haben noch nie so eine Rede beim Tag der Industrie gehabt, die ging unter die Haut“, sagte BASF-Chef Martin Brudermüller. Dem ist nichts hinzuzufügen. Gesamtnote: 1
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