Tauchsieder

Und Merz richtet es jetzt?

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Der Sound der Neunziger

Muss Merz es jetzt also richten? Für ihn spricht der Sound, den viele im Land, in „der Wirtschaft“ und noch mehr in der Union jetzt endlich mal wieder hören wollen: Erwirtschaften vor Verteilen! Steuern runter! Zinsen rauf! Leistung muss sich lohnen! Es ist der Sound der Neunzigerjahre, der alten Lagerpolitik und der Jungen Union – und es schadet gewiss nicht, wenn er wieder vernehmbarer würde im allgegenwärtigen Lärm der Umverteilungsvorschläge und Identitätsnichtigkeiten. Und doch spricht das Entscheidende gegen Merz, weil es für die CDU – schon wieder ein Paradox – heute mehr denn je darauf ankommt, „die Mitte“ als politische Leerstelle zu füllen.

Zur Erinnerung: Angela Merkel hat in ihren erfolgreichen Jahren „die Mitte“ glaubhaft repräsentiert, ganz gleich, wie viele Pirouetten sie in der Energiepolitik drehte, ganz gleich, wie viele ihrer Positionen sie aufgab, ganz gleich, wie sie zu Wehrpflicht, Griechenland, Atomkraft, Mindestlohn, Quote, Homo-Ehe und Kinderbetreuung stand (und fiel). Denn diese Mitte war, wie Angela Merkel, negativ definiert – also nicht durch die Substanz, die ihr innewohnt, sondern durch das, was außer ihr, also nicht die Mitte war. Eine Standortbestimmung der Mitte, das ist das Geniale an ihr, lässt sich anhand ihrer selbst ja gar nicht vornehmen, das heißt: Die Grenze zu ihr ziehen jene, die sich ihr nicht zugehörig fühlen, die sich der Mitte durch eine klar definierte Position jenseits von ihr entziehen. Die Folge war, dass die Merkel-CDU das politisch Bestimmte immer als randständiges Partikularinteresse vorführen und sich selbst als präsidiale, überparteiliche Kraft im Interesse des Großen und Ganzen präsentieren konnte.

Diese Unbestimmtheit der CDU gilt es zurückzugewinnen. Sie stellt nicht nur einen Erfolgsfaktor im Parteienwettbewerb dar, sondern ist auch ein Ausdruck von politischer Modernität: Konservative unterhalten zu der Wirklichkeit, die sie prägt und beeinflusst, ein skeptisch-osmotisches Verhältnis, das heißt: Sie setzen sich dem Lauf der Dinge aus, um tastende, ergebnisoffene, ständig der Korrektur bedürftige, vorläufige Antworten auf gesellschaftliche Veränderungen zu geben. Wie gut also, dass es eine Angela Merkel gab, deren Politik so relativ wahrhaftig war wie die Welt wahrhaftig relativ – und wie merkwürdig, dass es immer noch CDU-Mitglieder gibt, die ihrer Vorsitzenden Anpassungsfähigkeit vorwerfen. Merkel war die Personifikation von programmatischer Unschärfe und eben deshalb – in einer Welt, die aus den Fugen ist – lange Zeit eine vertrauenerweckende Führungsfigur: kleine Schritte, auf Sicht fahren, in langsam sich vollziehenden Prozessen denken, sich vorsichtig vorwärts tasten...

Die Linken, die SPD, die Grünen, auch die FDP – sie alle tun noch immer so, als hielten sie den Generalschlüssel in Händen, um uns Deutschen die Tür in eine paradiesische Zukunft zu öffnen: Reichtum für alle! Vater Staat! Alles Bio, alles gut! Der Markt wird’s schon richten! Angesichts solcher Wettbewerber war die substanzielle Entleerung der CDU ihr größtes Kapital auf dem Meinungsmarkt, die schiere Abwesenheit von Programmatik ihr Erfolgsgeheimnis als (letzte) Volkspartei. Sie legte ihrer Politik keine Weltanschauung zugrunde und sah davon ab, Patentlösungen zu offerieren. Sie dachte mehr in Fragezeichen als in Ausrufezeichen, akzeptierte Umbrüche, aber forcierte sie nicht – und verdiente sich eben damit das Vertrauen einer Mehrheit der Deutschen.

Kann Merz das: sich das Vertrauen einer Mehrheit der Deutschen verdienen? Seine Unterstützer lassen daran Zweifel aufkommen. Viele Pechschwarze und Knallgelbe sind sich ihrer selbst noch immer verdammt sicher – und sie denken dabei noch immer in den Kategorien eines ökonomischen Plattitüdenliberalismus. Sie stilisieren etwa die Freiheit des Autofahrers und Kantinenbesuchers zu einer Frage der „Freiheit an sich“ – nur um sich selbst die Freiheit zu erhalten, von den Skandalen abzusehen, die die meisten Menschen heute umtreiben: von viel zu vielen Radfahrer-Toten in den Städten und einer Massentierhaltung, die Lebewesen von der Geburt bis zum Schlachter rein produktionsprozessual behandelt. Aber Hauptsache, Tempo 30 in Großstädten wird verhindert und die Wurst bleibt billig?

Das Netzwerk Attac hat bereits vor zwanzig Jahren angemerkt, dass die internationalen Finanzmärkte der Regulierung bedürfen und die elitären Treffen der G8-Chefs nicht mehr zeitgemäß sind; damals wurden die Aktivisten von CDU-Politikern als irre Störenfriede abgekanzelt, die nichts von Wirtschaft verstehen, heute zählen die Regulierung der Finanzhasardeure und G20-Vereinbarungen zur Staatsräson. Die CDU hat die gesetzliche Frauenquote so lange verhindert, bis sie beinahe überflüssig wurde. Sie hat das Thema Mindestlohn verzögert, bis sich zuletzt auch der raubeinigste Unternehmer dazu bekannte, dass acht Euro die Stunde seine Firma nicht ruinieren würden. Sie hat beim Thema Steuer-CDs juristisch gefrömmelt und kritisiert, dass der Staat sich zum Hehler mache, statt der Betrügerei ein entschlossenes Ende zu bereiten. Und in Fukushima musste ein Atomkraftwerk explodieren, damit die schwarz-gelben Industriegläubigen nicht mehr das Vater-Unser der Energiewirtschaft nachbeteten, demzufolge in Deutschland die Lichter ausgingen, zöge man der Kernkraft den Stecker.

In allen fünf Fällen spielte die CDU überholte Glaubensgrundsätze (Deregulierung! freiwillige Selbstverpflichtung! Tarifautonomie! Der Staat ist ein Dieb! Es gibt kein Restrisiko!) gegen eine Wirklichkeit aus, die sich ihnen zunehmend entzog. Das kann sich die CDU nicht mehr erlauben. Sie war stets definiert als Partei, die der politischen Avantgarde in wichtigen Zeitfragen mit zehn Jahren Verspätung hinterherlief, um sich jederzeit auf der Höhe der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung zu befinden. Damit ist es vorbei. Es braucht heute mehr, um „die Mitte“ als politische Leerstelle zu füllen: Die CDU muss sich als Marktplatz für Sinn-Produzenten verstehen, sich wieder als Plattform widerstreitender Partikularinteressen zu erkennen geben, die das Große und Ganze, das Allgemeine und Mehrheitliche im Blick behält. Anders als Merkel in den vergangenen Jahren muss sie dabei allerdings auch als Marktteilnehmer agieren, wenn sie nicht bloß ein demografiebegünstigter, schwacher Hegemon sein will, sondern auch eine starke politische Kraft. Muss, ausgestattet mit wenigen, unverrückbaren Leitprinzipien (damals: Westbindung und Antikommunismus; heute noch: Europa, Wohlstand für alle, Soziale Marktwirtschaft; heute neu: Verteidigung der Demokratie und Eigentumsrechte, Sorge um die Schöpfung), gewissermaßen als neutralisierende Kraft, als unparteiische Partei Partei ergreifen, sporadisch, schiedsrichterlich – wenn es drauf ankommt.

Denn die Jungen wollen und werden sich nicht in die Vorgärten zurückziehen, im Gegenteil: Sie wollen von den großen, grenzenlosen Fragen der Moderne behelligt werden, weil sie wissen, dass man ihre Vorgärten in einer globalisierten Welt nicht einzäunen kann. Sie wollen die Kosten der modernen Wirtschaftsweise internalisieren. Wollen den Klimawandel und die Verkehrswende bearbeitet wissen, den Datenkapitalismus steuern und die Ungleichheit politisch adressieren, sie registrieren die eigentumsfeindlichen Wohnungspreise und verzweifeln an einer Rentenpolitik, die zukunftsvergessen das Vorgestern prämiert. Sie suchen einen normativen Kern, eine Partei, die auf ihren politischen Selbstanspruch antwortet. Die CDU kann dabei als Partei der Mitte nur gewinnen, wenn sie den Sinnhungrigen – letztes Paradox – eine ideologiefreie Zone bietet.

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