Vergangene Woche habe ich mich mit den Aporien des Liberalismus beschäftigt, näherhin: mit der verfänglichen, aber unbrauchbaren Unterscheidung von negativer und positiver Freiheit, die man „in Abituraufsätzen und Adventspredigten auch gern als ‚Freiheit von‘ und ‚Freiheit zu‘ gegeneinander stellt“, wie Peter Sloterdijk vor zwei Jahren in seiner Berliner Rede zur Freiheit spottete. Die Karlsruher Philosophie-Jukebox hatte dabei den französischen Aufklärer Jean-Jacques Rousseau im Sinn, der sich bereits 1765 von all den Erkenntniserträgen, Modernitätsschüben und Fortschrittsfantasien bedrängt fühlte, die der Vernunft gewordene Mensch zur Eroberung der Freiheit verbucht, unternimmt und anstellt.
Rousseau war damals in der schönen Schweiz zugegen, er ruderte von der Île St. Pierre auf den Bieler See hinaus, um der lärmenden Betriebsamkeit der Welt den Rücken zu kehren und der geschäftigen Realität ins Refugium eines träumerischen Bei-Sich-Seins zu entwischen. Die Freiheit, die der Mann im Boot damals spürte (nicht meinte), war die Freiheit des Taugenichts zur Träumerei und Sorglosigkeit, die Freiheit, unbrauchbar zu sein, sich einem inneren Driften überlassen zu können, einem seelischen Fließen, einem strömenden Fluss von sinnlos-sinnlichen Hier-und-Jetzt-Momenten – eine Freiheit, die nicht darin liegt, dass man tun kann, was man will, „sondern darin, dass man nicht tun muss, was man nicht will“ (Sloterdijk).
Für die Geschichte des Liberalismus als politischer Idee sind Rousseaus Rêveries du promeneur solitaire insofern von Bedeutung, als sie uns in exemplarischer Weise vor Augen führen, dass das Gegenteil der positiven Freiheit nicht die negative Freiheit ist, sondern dass beide zusammen in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis zur defensiven Freiheit stehen, also zu einer Freiheit, die gegen die Unfreiheit zunächst durchgesetzt wird und dann verteidigt sein will.
Diese defensive Freiheit kann sowohl eine Freiheit des persönlichen (Los-)Lassens angesichts einer aufdringlichen Realität sein wie bei Rousseau, als auch eine Freiheit des konkretpolitischen Handelns und Tuns, die gegen ihre Unterdrückung aufbegehrt und mutig ergriffen wird. Sloterdijk erinnert beispielhaft an die Geburt der res publica aus der kollektiven Empörung: Nachdem Sextus Tarquinius, der Sohn des Gewaltherrschers, die tugendhafte Lucretia vergewaltigt hat, lehnt sich das römische Volk gegen Willkür, Tyrannei und Machtmissbrauch auf, um sich hinfort nur noch selbst auferlegten Regeln zu unterwerfen. Liberalismus, so verstanden, bezeichnete keine Idee der Freiheit, sondern eine Impulsbewegung, die auf die Abschaffung der Unfreiheit zielt.
Der dreifache Vorteil eines solchermaßen ausgenüchterten, elementaren Liberalismusbegriffs liegt auf der Hand: Er verdeutlicht erstens, dass auch die so genannte „negative“ Freiheit immer von „positiven Subjekten“ getragen wird, die sich einen Raum für ihr Tun oder Lassen eröffnen. Er verdeutlicht zweitens, dass die Erschließung dieses Raums seiner Nutzung logisch vorausgeht. Und er verdeutlicht drittens, dass auf dem weiten Feld der Freiheit mancherlei angebaut werden kann, dass aber die Grenzen dieses Feldes von einer universal geltenden Definition dessen bestimmt werden, was Unfreiheit bedeutet: in der Macht eines anderen zu stehen.
Die amerikanische Politologin Judith Shklar hat die Eckpfeiler eines solchen Elementarliberalismus bereits 1989 in einem Essay skizziert, der jetzt auf Deutsch vorliegt, erhellend eingeleitet, ergänzt und interpretiert unter anderem von Axel Honneth, Seyla Benhabib, Michael Walzer und Bernard Williams. Ausgangspunkt von Shklars Essay ist der Gedanke, dass die Geschichte des Liberalismus weder mit den hochgestimmten Ideen der Aufklärer einsetzt, die sich im 17. und 18. Jahrhundert im Namen bürgerlicher Emanzipation und Selbstbestimmung gegen fürstliche Allmachtsansprüche richten, noch mit den Forderungen der Kaufleute, die Märkte dem Zugriff der Autoritäten zu entziehen, um durch zollfreies Wirtschaften die Welt zu befrieden: Handel statt Händel, Austausch von Waren statt Austausch von Waffengewalt. Für Shklar sind das zwei schmeichelnd idealistische Selbsterzählungen mit normativen Ansprüchen: Liberalismen der Hoffnung, so wie sie John Locke (Naturrecht auf Eigentum), Immanuel Kant (Emanzipation durch Aufklärung) und John Stuart Mill (Freiheit zur Selbstvervollkommnung) formuliert haben.
Ganz im Gegensatz zu einem Liberalismus der Händler und Helden spricht sich Shklar für einen "Liberalismus der Furcht", der Opfer und der Erinnerung aus. Seine Wurzeln hat er in den Religionskriegen des 17. Jahrhunderts und seine "elementarste Grundlage" ist "die aus tiefstem Schrecken geborene Überzeugung..., dass Grausamkeit ein absolut Böses ist". Für Shklar ist Montaignes Toleranzgedanke die Keimzelle des Liberalismus, nicht Lockes Eigentumsbegriff.