Tauchsieder

Kämpft Merkel um das Erbe Kohl?

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„Nationale Egoismen“ denken

Helmut Kohl, zur Erinnerung, war der letzte deutsche Kanzler, der „nationale Egoismen“ überhaupt noch international zu denken vermochte. Einer wie er müsste von Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron nicht europapolitisch zum Tanz aufgefordert werden – und einer wie er würde sich die Vermengung von ökonomisch begründbarer Euro-Skepsis und politisch induziertem Euro-Chauvinismus, wie er heute nicht nur in der AfD zu Hause ist, entschieden verbitten. Kohl stand noch fest in der staatsräsonalen Tradition der Nachkriegszeit: Das Primärinteresse Frankreichs, seinen östlichen Nachbarn zähmend in Europa einzubinden, korrespondierte seit 1945 perfekt mit dem Primärwunsch Deutschlands, sich marktwirtschaftlich politneutral zu verhalten - und gewissermaßen postnational in Europa aufzulösen.

Die europäischen Staatschefs haben sich den postheroischen Internationalismus Deutschlands und seinen ostentativen Willen zur politischen Selbstbeschränkung damals reich vergüten lassen. „Jede für Europa ausgegebene Mark ist gut angelegtes Geld“ – davon war Helmut Kohl, der Anti-Bismarck, überzeugt – und seine Amtskollegen wussten es auszunutzen: Auf dem Höhepunkt von Kohls Kanzlerschaft, 1990, finanziert die Bundesrepublik fast 70 Prozent der EU-Nettotransfers.

Aber der stupenden Naivität, mit der sich Kohl Europa „als großen, farbenprächtigen Blumenstrauß“ vorstellte, stand eine störrische Unbeirrbarkeit entgegen, mit der er die EU – das avantgardistischste internationale Projekt der Nachkriegszeit – seiner mutmaßlichen Vollendung entgegentrieb: „Die Alternative heißt, zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“, so Kohl.

Und - was bedeutet das mit Blick auf Merkels Europapolitik? Nichts Gutes. Dass die Diskussion von Macrons Vorschlägen erneut verschoben wurde, ist ein Indiz dafür, dass Merkel weiter lavieren, nichts riskieren wird: aus Furcht, für Griechenland das Wort zu ergreifen, von FDP und AfD als Zahlmeisterin des Kontinents denunziert zu werden – und den „Zusammenhalt“ des Landes zu schwächen, den sie mit ihrer lavierenden, das tagespolitisch Anfallende so gut wie möglich vertagenden Nicht-Politik geschwächt hat. Tatsächlich ist es mit Merkels Politik ein bisschen wie mit dem Berliner Flughafen: Aus der Angst davor, in einer Sackgasse zu enden, läuft sie einfach immer weiter.

Was Merkel tun könnte: Sich im Sinne Kohls jeden nationalistischen, ausgrenzenden Ton verbitten, der das Klima vergiften, das EU-Projekt zersetzen könnte: Wem an Europa etwas liegt, der sollte alle pejorativen Vokabeln, die im Umlauf sind, alle bezichtigenden Generalisierungen markieren und politisch ahnden. Das ist umso wichtiger, weil in Deutschland, nicht nur in den Reihen der AfD, das Selbstverständnis schwächelt, sich aus historischen Gründen einem europäischen Postnationalismus verpflichtet zu fühlen – und weil Frankreich zugleich Gefahr läuft, seine Identität als revolutionäre Grande Nation der Freiheit und Demokratie rechtsnational zu verhöhnen. „Macron“ ist, so gesehen, nicht nur die große Chance, „Europa“ nach dem Verblassen kriegshistorischer Erfahrungen neu zu begründen - sondern vielleicht auch die letzte Chance, es nicht in die Hände von Nationalpopulisten fallen zu lassen.

Anders gesagt: Merkel müsste Europa vor aller Euro- und Flüchtlingspolitik als Idee wertschätzen lernen. Müsste erkennen, dass „Europa“ – vor Bankenunion und Euro-Bonds, vor allen Souveränitäts- und Haftungsfragen – in einer künftigen, neuen Weltordnung von alles überragendem Interesse ist. Dass die USA und China, aber etwa auch Russland und die Türkei konsequent am Abbau global zu bearbeitender Probleme arbeiten – und dass es daher zunehmend viele Probleme gibt, die eine klare, europäische Antwort verlangen: das Verhältnis zu China etwa und die Klimapolitik, Arbeits- und Produktionsstandards, Freihandel und Finanzmarktregulierung, der Umgang mit Digitalkonzernen sowie eine militärische, aber auch digitale Sicherheitsarchitektur.

Wo ist die Merkel, die sich für diesen „Zusammenhalt“ stark machte? Die etwa nicht eisern (und erfolglos) darauf beharrte, dass osteuropäische Staaten „ihren Anteil“ bei der Verteilung von Flüchtlingen leisten - einen Anteil, den nicht nur die Regierungen dort, sondern auch die Bevölkerungen nicht leisten wollen. Und die stattdessen zur Abwechslung mal mit scharfen Sanktionen drohte, weil manche dieser Staaten europäische Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie unterlaufen

Mag sein, dass Merkel uns im Kampf um ihr Erbe noch alle überrascht. Bis zum Beweis des Gegenteils bleibt ihre Formel vom „Zusammenhalt“ nur das Lippenbekenntnis einer Kanzlerin, die die Rechtsausleger in der Union nicht mehr im Griff hat und dem Ressentiment in ihrer Partei die Zügel schießen lässt. Eine Kanzlerin, die aus Mangel an politischem Ehrgeiz und Bekenntnisfreude Probleme zu bekämpfen vorgibt, die sie maßgeblich mitverursacht hat, deren rhetorisch eingefordertes Kohäsionsplus im dauernden Widerspruch zu den zersetzenden Folgen ihrer entschieden unentschiedenen Politik steht.

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