Tauchsieder
Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen und Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) Quelle: dpa

Was ist schon Wahrheit?

Berlin dreht durch. Die Politik interessiert nicht mehr, was Sache war in Chemnitz. Sie deutet nur noch Lesarten, um böse Stimmung zu verbreiten – zum Schaden der liberalen Demokratie.

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Historikern muss man den Unterschied zwischen der „Wahrheit“, einer autoritativen Erzählung geschichtlicher Tatsachen, und der „Wahrheit“ einer quellengesättigten Schilderung geschichtlichen Geschehens nicht erklären. Es geht nicht darum, ob Herodot und Thukydides mit ihren Universalgeschichten eine höhere Stufe von Objektivität – im Sinne einer verbindlichen Lesart dessen, was war – erreichten. Oder ob ihre neuzeitlichen Kollegen unter Verweis auf Tausende von Quellen, Fundstellen und Belegen einem Abbild der Wirklichkeit nicht doch näher kommen.

Worum es statt dessen geht: Dass die Moderne sich von der Vor-Moderne durch einen radikal anderen Wahrheitsanspruch unterscheidet. Kein Historiker kann sich heute mehr auf seine Autorität zurückziehen, um meistererzählend „Wahrheit“ zu schildern – und paradoxerweise kann er es desto weniger, je mehr Belege und Gründe er für seine Schilderung anführt. Denn indem der moderne Historiker seine Quellen offenlegt, die seinen Folgerungen zugrunde liegen, öffnet er seine Erzählung zugleich der (Quellen-)Kritik – und damit dem Widerspruch.

Anders gesagt: Einem Historiker unter den Bedingungen der Aufklärung (also in den liberalen Gesellschaften des Westens), geht es nicht um die Entschiedenheit und Eindeutigkeit (s)einer „Wahrheit“, so sehr er sich mit den ständig verfeinerten Instrumenten der Wissenschaft auch um eine Annäherung bemühen mag. Sondern darum, dass seine Belege, Deutungen und Erklärungen anderen Belegen, Deutungen und Erklärungen im Raum der Öffentlichkeit begegnen können, um sich als mehr oder weniger triftig zu erweisen. Kurzum, „Wahrheit“ und Kritik unterhalten in der Moderne ein geschwisterliches Verhältnis: Sie tanzen fröhlich Ringelreihen um die „Wahrheit“ - nicht um sich auf ihr Wesen zu einigen, sondern um ein gemeinsames Verständnis ihrer Aspekte zu entwickeln.

Wer den Extremismus bekämpfen und ein liberales und offenes Deutschland bewahren will, muss thematisch überzeugen. Das kostet Kraft und bedeutet harte Arbeit. Eine verrohte Sprache allein genügt dafür nicht.
von Andreas Freytag

Ein solches Verständnis von „Wahrheit“ setzt nicht nur Neugier und Erkenntnisinteresse voraus – sondern auch ein Verständnis davon, dass das Antonym einer sich intersubjektiv herausschälenden „Wahrheit“ nicht Falschheit ist, sondern Täuschung. Davon wiederum weiß bereits die griechische Antike, etwa der Rhetor Gorgias in seiner „Lobrede auf Helena“ zu berichten: Gorgias spricht darin die schöne Gattin des Menelaos vom Vorwurf frei, sie habe sich schuldhaft dem Paris in die Arme geworfen und damit den Trojanischen Krieg ausgelöst. Statt dessen, so Gorgias, sei Helena in Wahrheit der apate zum Opfer gefallen – und damit jener „Art von Täuschung, die den Unterschied von Wahrheit und Falschheit insgesamt aufhebt“, so der Philosoph Richard Heinrich. Denn für Helena stellen die überredungskünstlerischen Worte des Paris fraglos eine „Wahrheit“ dar, deren Gehalt sie für unbezweifelbar hält – auch wenn (und gerade weil) die Quelle der Wahrheit die Täuschung ist.

Leerstellen des modernen Wahrheitsbegriffs

Nun kann man den Unterschied zwischen Helenas „Wahrheit“ und der „Wahrheit“ der modernen Wissenschaften auf einen einfachen Nenner bringen: Jene glaubt zu wissen. Diese weiß zu glauben. Aber damit ist es nicht getan. Denn wenn eine geglaubte „Wahrheit“ Evidenzcharakter hat, ist sie als (soziale) „Wahrheit“ unabweisbar in der Welt – davon zeugt der anhaltende Erfolg der Weltreligionen. Und das auch das ist noch nicht alles. Denn der Wahrheitsanspruch der Religionen (den Dingen auf den Seinsgrund kommen), ist bei Lichte besehen deutlich anspruchsvoller als der Wahrheitsanspruch der modernen Wissenschaften (Hypothesen auf der Basis physikalischer Gesetze mit empirischen Daten in Einklang bringen). Der Philosoph Hans Blumenberg, der sich gewissermaßen die Lebensaufgabe stellte, der Moderne ihre Verluste vorzuzählen, hat es gezeigt: Die „Wahrheit“ der Neuzeit, der Aufbruch der Aufklärer ins Entdeckerzeitalter der Vernunft, basiert auf ihrem Verzicht, künftig Letzbegründungen entdecken zu wollen.

Die „Wahrheit“ der Moderne hat damit zwei Leerstellen. Erstens: Sie verzichtet auf auktoriale Meistererzählungen – mit der fürchterlichen Folge, dass sich Wirklichkeit im Säurebad der gleichgewichtigen Sichtweisen und Behauptungen auflöst, sobald der „herrschaftsfreie Diskurs“ des Liberalismus als qualitätsnivellierender Egalitarismus gesiegt hat – sobald bildungsgesättigte Fachurteile nichts mehr gelten und die unbegründet hingebellte Meinung mehr zählt als alles geteilte Erkenntnisinteresse. Ironie der Geschichte? Postmoderne PhilosophInnen haben die „Wahrheit“ der „herrschenden Verhältnisse“ vor 20, 30 Jahren höchst erfolgreich dekonstruiert – sie uns entdeckt als umkämpftes Produkt von Machtinteressen und -strukturen. Moderne Populisten tragen sie heute, zwecks Umsturz der herrschenden Verhältnisse, zu Grabe: Ihre Version der „Wahrheit“ ist nicht mehr Ziel und Zweck, sondern Werkzeug und Waffe.

Zweitens: Die materiell-physikalisierte „Wahrheit“ der wissenschaftlichen Moderne ist nüchtern, ihrer metaphysischen Dimension beraubt – man hat sie gereinigt von der „religiösen Erfahrung“, von den Wahrheitsverdichtungen der Kunst, von der Unmittelbarkeit der Naturerlebnisse, kurz: von allen Resonanzen, in denen die Menschen „Wahrheit“ sprachlos erfahren – sie bewusstlos wissen. Die westliche Moderne hat sich leider nicht damit begnügt, Umfangenheitsbedürfnisse auszugrenzen aus dem reinen Vernunftbezirk der neuen „Wahrheit“, um sie mit Kant dem Reich des Glaubens zuzuschlagen. Sondern sie hat diese „Wahrheit“ als fortschrittsfeindlich diskreditiert, sie bekämpft im Namen zivilisatorischer Funktionsinteressen – so lange bis der „Wahrheit“ von einst alle Doppelbödigkeit und Tiefe abtrainiert war. Das, was heute als „gefühlte Wahrheit“ zurückkehrt, ist inhaltlich ein matter Widerschein einst leuchtender Erfahrungs-„Wahrheiten“ – und psychologisch ein Dammbruch jahrzehntelang zurückgestauter Resonanzbedürfnisse.

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