Benjamin Abtan „Wir brauchen Erasmus für alle Jugendlichen“

Quelle: imago images

Der französische Polit-Aktivist Benjamin Abtan will die Krise Europas mit einem gigantischen Austauschprogramm bekämpfen. Wie die Idee die Demokratie retten soll – und warum sie sich aus seiner Sicht rechnen würde.

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WirtschaftsWoche: Herr Abtan, Sie fordern Erasmus für alle. Hat Europa gerade nicht wichtigere Probleme zu lösen?
Herr Benjamin Abtan: Es gibt jede Menge Probleme in Europa. Aber sie haben alle eine gemeinsame Ursache: das liberale Fundament Europas bröckelt.

Und ein gigantisches Austauschprogramm wird diesen Prozess einfach so aufhalten?
Alleine natürlich nicht. Aber in der langen Frist ist ein übergreifender und pädagogisch betreuter Austausch junger Menschen das Beste, was wir gegen diese Erosion ausrichten können.

Viele EU-Politiker finden, dass Investitionen gegen Arbeitslosigkeit oder Infrastrukturprojekte die bessere Wahl sind.
Solche Investitionen sind wichtig, um das Leben vieler Europäer zu verbessern. Aber genauso müssen wir an die Kernprobleme ran. Europa steht akut unter Druck: Flüchtlinge, Finanzkrisen, Digitalisierung. Die Menschen wollen Antworten auf diese Herausforderungen. Aber die liefern bislang nur rechte Populisten und Islamisten. Das ist ein riesiges Problem. Wenn wir keine demokratischen Antworten liefern werden, könnte uns Europa um die Ohren fliegen.

Zur Person

Nochmal: Was würde ein Erasmus für alle daran ändern?
Europa wurde als Freiheitsprojekt geboren, das den Menschen Hoffnung gab. Davon ist bei vielen Europäern wenig geblieben, weil sie den Geist von damals nicht mehr spüren. Wir brauchen deswegen eine neue europäische Bewegung, die alle Europäer wieder für das Projekt begeistert. Das geht mit praktischen Erfahrungen. Deswegen brauchen wir ein Erasmus für alle Jugendlichen.

Und dann?
Kurzfristig würde so ein Projekt Gleichheit bedeuten, denn auch die bislang Ausgeschlossenen könnten an Europa teilhaben. Damit würde die immer größer werdende Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern der EU und der Globalisierung verringert. Langfristig könnte eine ganze Generation gemeinsam Rechte und Erfahrungen erleben – und daraus eine eigene Identität bilden. Das wären echte Alternativen zu denen der Populisten und Islamisten. Europa und die Demokratie könnten so gerettet werden.

Es gibt aber längst Austauschprogramme wie Erasmus+, bei denen für fast jeden etwas dabei ist. Trotzdem ist Europa in der Krise.
Die Austauschprogramme sind gut, aber viel zu klein gestrickt. Erstens erreichen sie längst nicht alle jungen Europäer. Zweitens sind sie so konzipiert, dass die Leute in ihren Blasen bleiben – Studierende unter Studierenden, Auszubildende unter Auszubildenden.

Und das würde Ihr Vorschlag ändern?
Wir wollen, dass alle Jugendlichen am Austausch teilnehmen. Vor allem diejenigen, die es heute besonders schwer haben: Auszubildende, Arbeitslose, Jugendliche, die ihren Eltern bei der Arbeit helfen. Ab 2024 wollen wir so weit sein, dass mindestens die Hälfte der Leute in einer Altersgruppe vor ihrem 25. Geburtstag für mindestens ein halbes Jahr im europäischen Ausland war. In der langen Frist streben wir 100 Prozent an.

Ambitioniert.
Wir wissen, dass so etwas nicht von heute auf morgen geht. Aber Hunderte Politiker, Wissenschaftler und Intellektuelle unterstützen die Idee schon. Auch Emanuel Macron ist dafür.

Wie viel Geld müsste die EU für so ein Programm locker machen?
Das berechnen wir gerade. Natürlich ist es nicht ganz einfach, da eine genaue Summe zu nennen. Fest steht aber, dass es machbar wäre.

Schon jetzt will die EU für Erasmus+ 30 Milliarden Euro im nächsten Haushalt von 2021 bis 2028 ausgeben.
Da werden wir wohl deutlich drüber kommen. Der anstehende Haushalt sollte als Schritt in Richtung eines universellen Erasmus genutzt werden. Insgesamt sollte man sich überlegen, wie viel Geld der Brexit kosten wird, wie teuer die Krise in Italien werden könnte, oder wie sich die Unabhängigkeitsbestrebung in Katalonien auf die Kasse niederschlägt. Wenn man die Kosten für ein groß angelegtes Erasmus Universal damit vergleicht, sieht man sofort, dass es sich lohnen würde.

Glauben Sie, dass sie mit solchen Rechnungen im politischen Spiel durchkommen werden?
Ich glaube, dass die Leute langsam realisieren, was für Europa auf dem Spiel steht. Sie merken, dass ohnehin viel Geld in Europa investiert werden wird. Und die Frage ist doch: Ist es besser mit dem Geld kommende Krisen auszutreten, oder es in eine neue Generation zu investieren? Gleichzeitig bin ich auch Realist. In fünf Jahren wird es sicherlich noch kein Erasmus für alle geben. Auch nicht in 15 Jahren – aber vielleicht in 30. Es kommt darauf an, dass wir jetzt die richtige Richtung einschlagen.

Glaubt man Ihrer Argumentation, könnte es mit Europa und der liberalen Idee bis dahin längst vorbei sein.
Deswegen kommt es darauf an, jetzt schon die ersten Schritte zu machen. Wir bauen gerade eine Art Think-Tank für unsere Idee auf. Wir überlegen, wie man das alles finanzieren kann, wir denken über pädagogische Begleitung nach, über die notwendige Logistik und Sprachbarrieren. Vor allem aber legen wir einfach einen gesunden Optimismus an den Tag, dass wir damit etwas ausrichten können. Die Einigkeit der Jugend in ganz Europa bestärkt uns da in unserer Idee.

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