
„Die Europäische Union war ganz klar noch nie in einer so dramatischen Lage wie in dieser Woche“, sagte der EU-Parlamentspräsident Martin Schulz am Dienstag nach einem Gespräch mit dem britischen Premierminister David Cameron in Brüssel.
Bei dem am Donnerstag beginnenden EU-Gipfel gehe es um einen notwendigen Kompromiss mit einem Land, das eine der sieben führenden Wirtschaftsnationen (G7) und Veto-berechtigtes Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sei. „Wir wollen, dass es Mitglied der Europäischen Union bleibt“, sagte Schulz.
Die schwierige Beziehung der Briten zu Europa
Die Beziehungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union waren nie einfach. Der konservative britische Premierminister David Cameron will bei einer Wiederwahl 2017 ein Referendum über den Verbleib in der EU ansetzen - und vorher das Verhältnis des Königreichs zu Brüssel neu verhandeln. Geprägt von tiefem Misstrauen gegenüber Europa setzte Großbritannien in der Vergangenheit wiederholt Sonderregeln durch - und steht traditionell mit einem Fuß außerhalb der EU.
Da Großbritannien zwar viel in den EU-Haushalt einzahlte, aber kaum von den milliardenschweren Agrarhilfen profitierte, forderte die britische Premierministerin Margaret Thatcher 1979: „I want my money back!“ („Ich will mein Geld zurück!“) Die „Eiserne Lady“ setzte dann 1984 eine Rabatt-Regelung für ihr Land durch, nach der Großbritannien 66 Prozent seines Nettobeitrags an die EU zurückerhält. Der Rabatt besteht bis heute, obwohl er immer wieder den Unmut anderer EU-Länder erregt, da sie nun den britischen Anteil mittragen müssen. Doch abgeschafft werden kann die Regel nur, wenn London zustimmt.
Wer von Deutschland nach Frankreich, Österreich oder in die Niederlande reist, muss dafür seinen Pass nicht vorzeigen. Großbritannien-Urlauber sollten den Pass jedoch dabei haben: Die Briten haben sich nicht dem Schengen-Abkommen angeschlossen, das den EU-Bürgern Reisefreiheit von Italien bis Norwegen und von Portugal bis Polen garantiert.
Seit der EU-Vertrag von Lissabon im Jahr 2009 in Kraft getreten ist, kann Großbritannien wählen, an welchen Gesetzen im Bereich Inneres und Justiz es sich beteiligt. Zudem erwirkte die britische Regierung den Ausstieg aus 130 Gesetzen aus der Zeit vor dem Lissabon-Vertrag. Im Dezember 2014 stieg London dann bei rund 30 Regelungen wieder ein, darunter beim Europäischen Haftbefehl. Diese „Rosinenpickerei“ nervt im Rest der EU viele.
In der Verteidigungspolitik setzt Großbritannien auf die Nato. Als EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker im März für den Aufbau einer europäischen Armee warb, kam das „No“ aus London postwendend. „Verteidigung ist eine nationale, keine EU-Angelegenheit“, sagte ein Regierungssprecher. Obgleich Großbritannien Ende der 1990er Jahre den Widerstand gegen die Gründung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) aufgab, wacht es darüber, dass die Europäer hier nicht zu weit gehen. So hat London verhindert, dass es ein Militärhauptquartier in Brüssel gibt. EU-Einsätze wie etwa in Mali werden deshalb dezentral aus den Mitgliedstaaten geleitet.
Auch in der Euro-Krise ist die an ihrer Pfund-Währung festhaltende britische Insel ein gutes Stück weiter von der Kern-EU weggedriftet. Mit Sorge wurden in London die mühseligen Arbeiten zur Euro-Rettung beobachtet, zudem fürchtete die britische Regierung Folgen für den Finanzstandort London durch strengere Banken-Regulierung oder eine Finanztransaktionssteuer. Für Empörung in der EU sorgte, dass sich Großbritannien dem Fiskalpakt für mehr Haushaltsdisziplin nicht anschloss.
Trotzdem will Schulz dem britischen Premier keine Zusage geben, dass alle Wünsche aus London bei künftigen Gesetzesvorhaben erfüllt werden. "Das EU-Parlament tut sein Möglichstes, um den Vorstellungen entgegenzukommen, aber wir können nichts garantieren", sagte Schulz. In einer Demokratie sei es nicht möglich, dass eine Regierung vom Parlament ein bestimmtes Ergebnis garantiert bekomme. Er könne lediglich zusagen, dass sich das Parlament umgehend mit der Änderung von EU-Gesetzen beschäftigen werde, sobald das Referendum in Großbritannien über den Verbleib des Königreichs in der EU abgehalten worden sei und die EU-Kommission entsprechende Vorschläge mache. Das Parlament muss nach eigener Ansicht vor allem dann zustimmen, wenn es um die geplante "Notbremse" geht, mit der Großbritannien Sozialleistungen für neu zuziehende EU-Bürger für bis zu vier Jahre aussetzen will.
Die Verhandlungen um die von London geforderten EU-Reformen sollen bei dem Gipfel der europäischen Staats- und Regierungschefs abgeschlossen werden. Es wird gehofft, dass Zugeständnisse der EU die Briten dazu bringen, bei einem geplanten Referendum für einen Verbleib ihres Landes in der EU zu stimmen.
Cameron auf Überzeugungstour
Vor dem EU-Gipfel am Donnerstag und Freitag traf der britische Premierminister David Cameron am Montagabend in Paris mit dem französischen Präsidenten François Hollande zusammen, um ihn zu überzeugen, Großbritannien Zugeständnisse zu machen und damit einen drohenden Austritt des Landes aus der EU - den sogenannten „Brexit“ - abzuwenden.
Die umstrittenste Forderung Großbritanniens ist es, zugewanderten EU-Bürgern für vier Jahre lang einige Sozialleistungen vorzuenthalten, was nach Ansicht von Kritikern europäische Grundprinzipien in Frage stellt. „Das Sozialsystem steht natürlich auf dem Spiel“, sagte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker am Montag. Auch er will Cameron am Dienstag treffen.
„Wir müssen diese Frage des Sozialsystems mit maximaler Vorsicht angehen“, sagte Juncker. „Sie betrifft Großbritannien, aber sie betrifft auch andere Mitgliedsstaaten.“
EU-Ratspräsident Donald Tusk erklärte am Montag bei einem Besuch in Rumänen, die EU könne keine Kompromisse bei ihren grundlegenden Freiheiten und Werten eingehen. „In diesem Sinne habe ich einen Vorschlag für eine neue Einigung für Großbritannien in der EU ausgearbeitet“, sagte er. Juncker sprach von einem „fairen Deal für Großbritannien und einem fairen Deal für die 27 anderen Mitgliedsstaaten“.
Cameron hatte sich den britischen Wählern gegenüber verpflichtet, bis Ende 2017 ein Referendum über einen Austritt Großbritanniens aus der EU abzuhalten. Falls er auf dem Gipfel ausreichend Zugeständnisse von den übrigen 27 EU-Ländern bekommt, will er den Briten empfehlen für einen Verbleib in der EU zu stimmen. Das Referendum könnte dann bereits im Juni stattfinden.
Tusk warnte, dass die Auseinandersetzung über Großbritannien gemeinsam mit den unterschiedlichen Positionen der EU-Staaten in der Flüchtlingskrise zu einer Auflösung der EU führen könnte. „Das Risiko eines Auseinanderbrechens ist real“, sagte er. „Dies ist ein kritischer Moment. Es ist höchste Zeit, das wir auf die Argumente der anderen mehr hören als auf unsere eigenen.“ Es sei aber normal, dass sich die Positionen kurz vor dem entscheidenden Gipfel verhärteten, sagte Tusk.