Bricht Europa jetzt auseinander?
Das haben wir Europäer selbst in der Hand. Wenn wir den Briten weiterhin den Zugang zum Binnenmarkt ermöglichen, die wirtschaftlichen Beziehungen also bestehen bleiben, bricht Europa nicht auseinander.
Geert Wilders und andere Rechtspopulisten wollen den Brexit für sich nutzen. Drohen nun auch Referenden in den Niederlanden oder Frankreich, wo die EU-Skepsis ebenfalls groß ist?
Das ist möglich und hängt davon ab, wie wir Europäer auf die Brexit-Abstimmung reagieren. Wir sollten nicht wütend und beleidigt sein nach dem Motto: Jetzt schmeißen wir die Briten möglichst schnellst raus.
Zur Person
Andreas Freytag ist Professor für Wirtschaftspolitik an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Neben den Fragen zur deutschen und europäischen Wirtschaftspolitik interessieren ihn außenwirtschaftliche und entwicklungspolitische Themen. Sein Ansatz ist ein ordnungspolitischer und institutionenökonomischer; er ist aktiv in der Public Choice Society. Freytag ist Honorarprofessor an der Universität Stellenbosch und lehrt darüber hinaus regelmäßig an der Technischen Universität Tallinn und der Estonian Business School. Er ist assoziiert mit dem European Centre for International Political Economy in Brüssel und dem South African Institute of International Affairs in Johannesburg, wo er 2008 der Bradlow Fellow war. Freytag studierte Volkswirtschaftslehre in Kiel, promovierte und habilitierte in Köln. Er ist Autor zahlreicher Aufsätze und Bücher, u.a. des mit Juergen B. Donges gemeinsam verfassten Lehrbuchs "Allgemeine Wirtschaftspolitik" (UTB Lucius und Lucius, 3. Aufl. 2009).
Was bedeutet der schwarze Freitag für Großbritannien?
Die Briten werden schnell merken, dass ihre Entscheidung schwere wirtschaftliche Folgen hat. Nun werden Pläne entworfen, wie Teile der Finanzindustrie abwandern könnten. Ob das dann realisiert wird, ist eine ganz andere Frage. Viel wichtiger ist aus meiner Sicht, dass sich die EU erneuert.
Die einen rufen bereits nach einer tiefergehenden europäischen Integration.
Das wäre ein Fehler. Wir müssen die Kompetenzen von Brüssel überprüfen und das Subsidiaritätsprinzip wieder stärken. Kompetenz und Haftung müssen wieder stärker zusammenfallen. Wir brauchen jetzt weniger Europa, nicht mehr; dafür muss es ein besseres werden.
In welchen Bereichen?
Die Wirtschaft beklagt zu viel Bürokratie und Regulierung aus Brüssel, also sollten wir hier ansetzen. Und mindestens genauso wichtig: Die Rhetorik muss sich ändern. Viele Menschen sind abgeschreckt von dieser romantischen Rhetorik, mit der alle Kritik an Brüssel beiseite geschoben werden soll.
Offensichtlich gelingt es nicht mehr, die europäische Idee glaubhaft zu vermitteln. Woran liegt das?
Die EU-Gegner sitzen, mit Ausnahme Schottlands, vor allem in den alten Industrieregionen. Die Verlierer des Strukturwandels führen das Vereinigte Königreich aus der EU. Wir müssen nun endlich wieder darüber reden, was die Vorteile der Integration sind und warum sie unumkehrbar ist - selbst wenn sich ein Land entscheidet zu gehen. Diese Botschaft müssen wir revitalisieren. Das heißt auch, dass die Bewältigung des Strukturwandels mit den nötigen Strukturreformen eingeleitet werden muss.
Warum ist ‚mehr Europa‘ dafür der falsche Weg?
Die europäische Integration ist ein Erfolgsprojekt, das wir bewahren müssen. Wenn wir jetzt aber hastig noch mehr Politik nach Brüssel verlagern, wenden sich noch mehr Bürger entsetzt ab. Wir sollten das Gegenteil machen und die Umverteilungsmaschinerie zurückfahren.
"Eine Sozialunion bringt uns nicht weiter"
Heißt konkret?
Eine Sozialunion mit Transfertöpfen und Strukturfonds bringt uns nicht weiter. Die Regionen, die vor zehn oder 20 Jahren sozial schwach waren, sind es auch heute noch. Außer Irland hat niemand die Strukturgelder sinnvoll eingesetzt. Wir müssen uns wieder voll auf den Binnenmarkt konzentrieren, das Herz der Europäischen Union.
Wie können die Briten die EU verlassen und zugleich am Binnenmarkt teilnehmen?
Mit dem norwegischen Modell gibt es eine gute Vorlage.
Aber das Modell Norwegen hieße: Die Briten zahlen ins EU-Budget ein - ohne mitbestimmen zu dürfen.
Wir müssen jetzt ergebnisoffen in die Verhandlungen gehen. Was aber nicht geht: Eine Trotzreaktion der "guten" Europäer. Dann bekommen die Nationalisten und Europaskeptiker weiter Zulauf.
Was haben die Europäer falsch gemacht?
Die nationalen Regierungen haben vieles, was sie daheim nicht durchbekommen haben, über Brüssel gespielt. Für alles, was gut war, haben sich die Nationalstaaten dann gefeiert. Alles was schlecht war, haben sie Brüssel angekreidet. Das war polit-strategisch clever, rächt sich jetzt aber.
Und so ist das Bild vom Moloch Brüssel entstanden.
Die EU-Kommission in Brüssel beschäftigt weniger als 30.000 Menschen, die Stadt Köln hat vermutlich mehr Mitarbeiter. Natürlich ist die Brüsseler Selbstherrlichkeit manchmal schwer erträglich. Aber wir sollten auch nicht alles schlecht reden. Wir müssen dafür sorgen, dass Brüssel besser funktioniert.
Haben Sie Sorge um Großbritannien?
Kurzfristig schon. Vor allem besorgt mich, dass es das Vereinigte Königreich zerreißt. Die eine Hälfte wird der anderen ewig Vorhaltungen machen.
Und die Nordiren und Schotten spalten sich womöglich ab.
Ein Little England wäre bitter. Langfristig bin ich aber nicht sicher, was geschieht. Das Referendum ist nicht bindend. Ein neues Parlament könnte nach Parlamentswahlen entscheiden, in der EU zu bleiben.
Was die Bürger kaum akzeptieren dürften.
Ja, aber dann müssen die Briten binnen zwei Jahren mit 120 Ländern Freihandelsabkommen neu verhandeln. Das ist unmöglich. Vielleicht erklären sie schlicht einseitig den Freihandel und machen sich zur großen Freihandelszone Europas. Dann hätte eher der Rest Europas ein Problem.