Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz heute gemeinsam mit den Spitzen der EU in Berlin die Regierungschefs der Westbalkanstaaten empfängt, wird sicher wieder viel von der „europäischen Familie“ gesprochen, die wächst, gedeiht und gegen den russischen Aggressor zusammenstehen muss. Das ist alles richtig, aber wie immer bei anstehenden EU-Erweiterungen lohnt es sich, vorurteilsfrei, aber auch genau auf die neuen, potenziellen Familienmitglieder zu schauen.
Um die Mitgliedschaft bewerben sich Albanien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Nordmazedonien, Montenegro und Serbien. Keines dieser Länder ist wirtschaftlich stark; man muss im Gegenteil davon ausgehen, dass sie auf Jahrzehnte hinaus zu den Empfängern aus dem EU-Haushalt zählen werden. Zudem weisen einige dieser Staaten auch nach jahrelangen Bemühungen immer noch erhebliche rechtsstaatliche und demokratische Defizite auf.
Noch wird zwar nicht über den Beitritt der Westbalkanstaaten entschieden; es müssen bis dahin einige Hürden überwunden werden. Doch die EU-Spitzen sollten aus den aktuellen Problemen mit Mitgliedsstaaten wie Rumänien und Bulgarien lernen, aber auch die Entwicklungen nicht vergessen, die Länder wie Polen und Ungarn sehr zum Missfallen der Europäischen Union genommen haben. Ohnehin ist die europäische Familie aktuell unter großem Druck und schiebt viele ungelöste Probleme vor sich her: Inflation, Energiepreisschock, hohe Verschuldung und eine neue Asylkrise sind nur einige Beispiele – von Klimaschutz und Transformation der Wirtschaft gar nicht zu reden.
Die europäische Einigkeit gegen Russland macht die Gemeinschaft zwar stark, aber unter der Decke dieser demonstrativen Anti-Putin-Koalition gären viele Streitigkeiten. Mit den Westbalkan-Staaten wird die EU der 27 Mitglieder noch schwerer zu lenken sein. Vor allem Serbien muss sich entscheiden. Das Land pflegt traditionell enge Beziehungen zu Russland, was kürzlich sogar in einem eigenen Abkommen zur verstärkten Zusammenarbeit zwischen Belgrad und Moskau mündete. Die Sorge, dass Russland über Serbien erheblichen Einfluss auf Europa gewinnt, ist berechtigt.
Solange in Belgrad nicht eine klare Entscheidung fällt, zu welcher Seite man neigt, kann Serbien nicht in die europäische Familie aufgenommen werden. Auch bei den anderen Aspiranten ist unter den Vorzeichen der „Zeitenwende“ Vorsicht geboten. Ein kriselndes Europa im Krieg hält nicht noch ein halbes Dutzend weitere Staatschefs vom Schlage Victor Orban aus.
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