Seit sie in Brüssel ist, wundert sie sich über dieses seltsame Konzept von oben und unten. Auf der Suche nach einem neuen Zuhause für sich und ihre Familie ließ sich Margrethe Vestager von Maklern durch diverse Häuser führen. „Im Untergeschoss angekommen, deuteten Makler auf Kammern und empfahlen sie für Dienstboten“, erzählt Vestager und schaut entsetzt.
Die Anekdote sagt etwas aus über den Brüsseler Immobilienmarkt, wo Investoren mit leichter Hand Keller zu Wohnraum umdeklarieren und auf Diplomaten als Kunden hoffen. Sie sagt aber vor allem viel aus über eine Frau, die es in der dänischen Politik nach ganz oben geschafft hat und dabei ihr einstiges Image als kalte Liberale ablegte. Vestager lässt es menscheln, zeigt eine persönliche Seite. Dennoch verfolgt sie ihre Ziele mit großer Entschlossenheit.
Das sind die neuen EU-Kommissare: Länder von I-O
Phil Hogan, bisher Umweltminister, wird in Brüssel Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung.
Federica Mogherini, Außenministerin, kümmert sich als Hohe Vertreterin um die Außenpolitik der Europäischen Union.
Neven Mimica, bisher Kommissar für Verbraucherschutz, wechselt das Ressort: Künftig kümmert er sich um Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung.
Valdis Dombrovskis, ehemaliger Ministerpräsident, künftig Vizepräsident für die Themen Euro und sozialer Dialog.
Vytenis Povilas Andriukaitis wird seine Expertise als Gesundheitsminister nun in Brüssel einbringen. Er wird EU-Kommissar für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit.
Jean-Claude Juncker, ehemaliger Ministerpräsident und Eurogruppen-Chef, steht als Kommissionspräsident an der Spitze des neuen Kollegiums.
Karmenu Vella, früherer Tourismusminister in Malta wird Kommissar für Umweltschutz, Meerespolitik und Fischerei.
Der bisherige niederländische Außenminister Frans Timmermans wird als "Erster Vizepräsident der Kommission" der wichtigste Mann hinter Juncker. Er wird sich auf EU-Ebene um Regulierungsfragen und die Beziehungen zwischen den Institutionen kümmern.
Johannes Hahn, bisher Kommissar für Regionalpolitik, übernimmt das Ressort "Europäische Nachbarschaftspolitik und Beitrittsverhandlungen".
In ihrer Heimat führte sie als Vize-Ministerpräsidentin regelmäßig die Rangfolge der einflussreichsten Politiker an. Als sie von 2007 bis 2011 an der Spitze der sozialliberalen Oppositionspartei Radikale Venstre stand, faszinierte sie die dänische Öffentlichkeit so sehr, dass sie der Erfolgs-Fernsehserie „Borgen“ als Vorbild diente.
Seit Monatsbeginn hat die Mutter dreier Töchter (11, 15 und 18 Jahre alt) nun einen der mächtigsten Posten in der neuen EU-Kommission unter Präsident Jean-Claude Juncker inne: Als Wettbewerbskommissarin kann sie Kartellstrafen in Milliardenhöhe verhängen, Fusionen untersagen und den Mitgliedstaaten auf die Finger klopfen, wenn diese unerlaubte Subventionen verteilen.
Ihre anstehende Entscheidung im Fall Google, den sie von Vorgänger Joaquín Almunia geerbt hat, wird Europas Antwort auf die Vormacht von US-Internet-Giganten bestimmen. Von ihr wird abhängen, ob Europa Steuerschlupflöcher schließt, die Konzerne wie Apple und Starbucks in Ländern wie Luxemburg bisher ausgenutzt haben.
"Vestager ist ein Glücksfall"
Diejenigen, die Vestager gut kennen, halten sie für eine Idealbesetzung. „Sie ist ein Glücksfall“, sagt ein hoher EU-Beamter, der mit ihr in ihrer Zeit als dänische Wirtschaftsministerin eng zusammengearbeitet hat. Im Oktober 2011 trat sie dieses Amt an, nachdem sie 1998 mit nur 29 Jahren zum ersten Mal Ministerin geworden war, damals für Bildung und Kirche. Nie zuvor hatte es in Dänemark ein so junges Kabinettsmitglied gegeben.
An ihrem zweiten Arbeitstag als Wirtschaftsministerin stand ein Treffen des Wirtschafts- und Finanzministerrats (Ecofin) in Brüssel an. Als sie drei Monate später den Vorsitz der dänischen Ratspräsidentschaft übernahm, fielen ihre gute Vorbereitung auf und ihr Talent, Brücken zu bauen. „Sie vermittelte zwischen Kampfhähnen und war dabei nicht ideologisch fixiert“, heißt es in Brüssel.
Von der Masse ihrer Kollegen, nur eine Handvoll davon weiblich, hob sie sich durch ihren Charme ab. „Sie kennt ihre Wirkung und setzt sie gezielt ein“, sagt ein Mann, der dabei war. „Es geht ihr dabei aber immer um einen Zweck.“
Die Euro-Krise drückte damals auf die Stimmung, machte unangenehme Entscheidungen notwendig. Während andere an ihrem Amt litten, blühte Vestager bei den Sitzungen in den fensterlosen Räumen des Justus-Lipsius-Gebäudes auf. „Was an der Arbeit im Ecofin so Spaß macht, ist der Umstand, dass man die Märkte wirklich beeinflusst“, sagt sie heute.
Die Revolution muss warten
Sie genoss den engen Kontakt zu den anderen Ministern, die sie bei den Sitzungen im Monatstakt kennenlernte. Trotz unterschiedlicher Interessen war die Zusammenarbeit oft einfacher als in der Koalition zu Hause: „Man hat ja nicht dieselben Wähler.“
In ihrer Zeit im Ecofin bekam sie Lust auf ein Brüsseler Amt. Als feststand, dass die dänische Regierungschefin Helle Thorning-Schmidt nicht nach Brüssel wechseln würde, kam Vestagers Chance. Nachdem Juncker angekündigt hatte, Frauen mit wichtigen Posten zu betrauen, war klar, dass die studierte Ökonomin ein einflussreiches Amt bekommen würde.
Von ihrem Vorgänger übernimmt Vestager eine lange Liste komplexer Fälle, neben Google auch die politisch heikle Untersuchung gegen Gazprom wegen einer möglichen Manipulation von Gaspreisen. Vestager geht mit einer gewissen Bescheidenheit ins Amt: „Man sollte nicht den Ehrgeiz haben, die europäische Wettbewerbspolitik zu revolutionieren.“