Europa Finger weg vom Stabilitätspakt!

Die Europäische Union hat mir ihren Finanzen zu kämpfen. Es wird über eine Reform diskutiert. Quelle: dpa

Brüssel bereitet gerade eine politische Offensive vor, den Stabilitätspakt zu „reformieren“, sprich: zu entschärfen. Warum das riskant ist.

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Es ist nicht überliefert, ob die Erfinder des Europäischen Stabilitätspakts die Schriften von David Ricardo gelesen haben. Der große britische Ökonom schrieb Anfang des 19. Jahrhunderts diese schönen Sätze: „Die Staatsverschuldung ist eine der schrecklichsten Geißeln, die jemals zur Plage einer Nation erfunden wurden.“ Und: „Die Defizite von heute sind die Steuern von morgen.“

Ziemlich sicher ist allerdings, dass Ricardos Botschaft nicht zur aktuellen EU-Kommission durchgedrungen ist. Brüssel bereitet gerade eine politische Offensive vor, den Stabilitätspakt zu „reformieren“, sprich: zu entschärfen. Hoch verschuldete Staaten wie Italien, Spanien und Griechenland weiß die Kommission dabei an ihrer Seite. Auch Frankreich, das im Januar 2022 die EU-Ratspräsidentschaft übernimmt, ist mit im Boot. Zur Disposition stehen nicht nur die starren Schuldenobergrenzen beim jährlichen Haushalt und dem staatlichen Gesamtschuldenstand in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Es geht auch um eine neue Aufspaltung in böse Schulden und gute Schulden, wobei die guten Schulden (etwa für den Klimaschutz) künftig nicht mehr in die Berechnungen einfließen sollen. Manche würden den Pakt, der wegen Corona bis Ende 2022 ausgesetzt ist, am liebsten ganz abschaffen, wohlwollend begleitet von der wachsenden Schar neo-keynesianischer Ökonomen.

In der Tat ist der Europäische Stabilitätspakt kein perfektes Regelwerk. Die darin verankerten Schuldenregeln wurden vor über 30 Jahren konzipiert, als die Welt(wirtschaft) noch eine andere war, die festgelegten Obergrenzen von drei Prozent des BIP (jährliches Defizit) und 60 Prozent (Schulden insgesamt) sind ökonomisch und statistisch schwer begründbar und wirken tendenziell prozyklisch. Sanktionen bei Verstößen lassen sich faktisch nie durchsetzen.

Gleichwohl sind die politischen Attacken auf die EU-Schuldenregeln brandgefährlich. Denn diese Regeln sind die letzte gesamteuropäische Schuldenbremse, die es überhaupt noch gibt. Die in früheren Zeiten erfolgte Disziplinierung finanzpolitischer Geisterfahrer über den Kapitalmarkt – also Risikoaufschläge für Staatsanleihen unsolider Gläubigerstaaten – hat die Europäische Zentralbank mit ihren massiven Anleihekäufen weitgehend eliminiert.

Das Argument, die angepeilten billionenschweren Investitionen in den Klimaschutz seien aus den normalen Haushalten nicht finanzierbar, mag plausibel erscheinen. Auch sind Schulden in Nullzinszeiten in ihrer langfristigen Destruktionskraft anders zu bewerten als in Hochzinsphasen. Was aber in der aktuellen Debatte sträflich unterschätzt wird, ist die politökonomische Dimension. Freifahrtscheine für Verschuldung sind der Tod jeder notwendigen Strukturreform und die Kreativität der Politik, lästige Sparvorgaben zu umgehen, dürfte immens sein. Fallen alle Schulden, die vermeintlich zu Wohle des Klimas aufgenommen werden, aus der Berechnung raus, dürfte plötzlich ein überraschend großer Teil des staatlichen Budgets nach offizieller Lesart irgendwo und irgendwie dem Klima dienen. Dann lassen sich, überspitzt gesagt, auch neue Dienstgebäude der Umweltbehörden auf Pump finanzieren. Für kaum einen Subventionstopf gäbe es dann noch einen Deckel.

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Ein Aufweichen oder gar die Abschaffung von Maastricht-Kriterien und Stabilitätspakt wäre ein weiterer Sargnagel für eine regelgebundene Politik in Europa. Man darf daher die Sprengkraft dieser Debatte für den Zusammenhalt der Währungsunion nicht unterschätzen. Den Protagonisten einer laxeren Finanzpolitik in der Eurozone stehen die „Sparsamen Vier“ entgegen (Niederlande, Schweden, Dänemark, Österreich), tendenziell auch die baltischen Staaten.

Ja: In Zeiten wie diesen muss auch in der Finanzpolitik eine flexible Reaktion auf Krisen möglich sein. Aber wir sollten Flexibilität nicht mit Prinzipienlosigkeit verwechseln.

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