Freytags-Frage
dpatopbilder - 05.09.2019, Großbritannien, London: Boris Johnson, Premierminister von Großbritannien, wartet auf die Ankunft von Israels Ministerpräsident Netanjahu in der Tür der Downing Street Nummer 10. Foto: Aaron Chown/PA Wire/dpa +++ dpa-Bildfunk +++ Quelle: dpa

Hat Premier Johnson einen Plan?

Seit der Anordnung eines Zwangsurlaubs für das britische Unterhaus eskaliert die Situation in Großbritannien in einem Machtkampf. Doch was möchte Boris Johnson bezwecken?

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Premierminister Boris Johnson hat seit Amtsantritt keine Gelegenheit verstreichen lassen, sich ins internationale Rampenlicht zu schieben und kontroverse Reaktionen in Großbritannien und anderswo hervorzurufen. Der vorläufige Höhepunkt der Johnson-Show war der von ihm angeordnete Zwangsurlaub für das britische Unterhaus wenige Wochen vor dem endgültigen Austrittsdatum Großbritanniens aus der Europäischen Union (EU).

Dieser Zwangsurlaub hat die Situation in London im Verlaufe dieser Woche eskalieren lassen. Erst trat ein konservativer Abgeordneter aus der Partei aus und schloss sich den Liberalen (LibDems) an. Danach schmiss der Premierminister 21 prominente parteiinterne Oppositionelle aus der Fraktion; sie sollen seinem Willen nach auch künftig nicht mehr für einen Sitz im Namen der Konservativen kandidieren dürfen. Anschließend beschloss das britische Parlament gegen die Regierung ein Gesetz zur Verhinderung eines No-Deal-Brexit, bevor es schließlich Neuwahlen am 15.Oktober verhinderte.

Es war also ein heftiger Machtkampf zu beobachten, den der Premierminister scheinbar verloren hat. Gestern morgen wurde dann offenbar eine Einigung darüber erzielt, dass es keinen weiteren Versuch der Regierung geben wird, den No-Deal-Brexit durchzudrücken; das No-No-Deal-Gesetz soll demnach heute durch das Oberhaus gebracht und anschließend von der Königin unterzeichnet werden.

Dafür könnte es doch Neuwahlen im Herbst dieses Jahres geben. Die Idee der Neuwahlen ist also noch nicht vom Tisch, zumal auch die Labour-Partei monatelang dafür plädiert hat. Neuwahlen können jedoch auch aus Sicht des Premierministers gefährlich sein, wie das Beispiel der letzten Wahl zeigt. Theresa May wollte eine deutliche Mehrheit und ein klares Mandat für den Brexit und war am Ende auf die nordirische Partei DUP angewiesen. Vielleicht passiert Boris Johnson jetzt das gleiche, oder er verfehlt überhaupt eine Mehrheit. Immerhin muss er nicht nur gegen potentielle Remainer, sondern auch gegen die Brexit-Partei antreten. Überraschende Ergebnisse sind da nicht ausgeschlossen.

All dies wirft die Frage auf, was der Premierminister eigentlich bezweckt. Erstens ist unklar, wie er sich mit Blick auf die britische Wirtschaft und die zukünftige wirtschaftliche Lage der Bürger aufstellt. Nach einer internen Studie der britischen Regierung wird ein No-Deal-Brexit vor allem Chaos bewirken, zumindest kurzfristig. Es droht ein Mangel an Nahrungsmitteln und Medikamenten, die Häfen könnten im Chaos versinken, und die für die aus Brüssel zurückeroberten Kompetenzen benötigte Verwaltungskapazität scheint auch zu fehlen. Auch ist von den versprochenen Freihandelsabkommen Großbritanniens mit dem Rest der Welt nicht viel zu sehen. Hätte die Regierung hier Erfolge vorzuweisen, wären die Argumente gegen einen ungeordneten Brexit schwächer. Vor diesem Hintergrund wäre es eigentlich geboten, dass die britische Regierung einen No-Deal-Brexit gerade nicht herbeiführt.

Die Verlautbarungen von Premierminister Johnson und seinem Berater David Cummings legen allerdings nahe, dass ihnen die Folgen eines No-Deal-Brexit ziemlich egal sind. Wie schon in seiner Brexit-Kampagne legt der Premierminister wenig Wert auf Fakten und korrekte Voraussagen. Er appelliert vielmehr an die Gefühle und Befindlichkeiten der Bürger. Sei gestriges Nachgeben hat seine Ursache vermutlich nicht in der Einsicht, dass ein geregelter Brexit oder der Verzicht darauf besser für Großbritannien wäre.

Zweitens riskiert der Premierminister mit seiner Haltung nicht nur den Wohlstand des Landes, sondern das Vereinigte Königreich insgesamt. Denn es ist bekannt, dass es in Schottland sowohl eine große Ablehnung des Brexit als auch einen weit verbreiteten Wunsch nach Unabhängigkeit von England gibt. Beides scheint insofern zusammenzuhängen, als dass ein für Schottland teurer Brexit die Bereitschaft, für die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich zu stimmen, steigen lässt. Es wird zwar nicht leicht sein, ein neues Referendum zu organisieren, aber es ist auch nicht ausgeschlossen. Wie es ausgeht, kann nicht seriös vorhergesagt werden.

Die dritte Frage, die viele Beobachter umtreibt, ist diejenige nach der Haltung des Premierministers zu seiner Partei. Der gegenwärtige harte Kurs spaltet die Partei offenkundig noch weiter, als sie es ohnehin schon war, allein durch die Frage nach dem Brexit. Auch hier muss man feststellen, dass der Premierminister eine erstaunlich phlegmatische Haltung zu haben scheint. Es scheint ihn nicht zu interessieren, dass die Zukunft der Konservativen Partei auf dem Spiel steht.

Von einigen Beobachtern wird er deshalb als Clown oder Zocker dargestellt, dem es nur um das Amt des Premierministers ginge und der kein Interesse am Wohlergehen des Landes hätte. Er hätte dieser Lesart zufolge keinen ernsthaften Plan außer “Johnson first!“ Es fällt immer schwer, solch eine simple Bewertung zu akzeptieren. Denn sie bedeutet auch, dass sowohl Parteifreunde als auch Wähler keine Urteilskraft haben. Das wäre ja fast genauso dramatisch wie die darin ausgedrückte Haltung des Premierministers.

Dennoch wirkt das gesamte Auftreten Boris Johnson nicht so, als ob er sich zahlreiche und intensive Gedanken über die Zukunft seines Landes gemacht hätte. Das für sich genommen ist keine gute Nachricht. Vielleicht sind Neuwahlen mit einem Regierungswechsel trotz der wenig überzeugenden Alternative das Beste, was Großbritannien im Moment passieren kann. Das wäre sicherlich nicht der Plan des Boris Johnson, käme aber den Vorstellungen vieler Briten mehr entgegen.

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