Sie haben vor allem Demokratie in Osteuropa gefördert. Warum ist dort der Hass auf Flüchtlinge so groß?
Ungarns Premier Victor Orbán will Merkel die Führungsrolle in Europa streitig machen – und nebenbei Prinzipien unterminieren, für die Europa steht. Man muss sich das wie einen Zangenangriff vorstellen: Russlands Präsident Wladimir Putin greift die EU von außen an, Orbán von innen. Haben Sie gesehen, wie Orbán auf dem CSU-Parteitag gemeinsam mit Horst Seehofer Merkel attackierte?
Aber Orbán allein kann den Anstieg von Fremdenhass in Osteuropa nicht erklären.
Orbán ist ja nicht alleine. Jarosław Kaczyński, dessen Partei gerade die Wahl in Polen gewonnen hat, verfolgt einen sehr ähnlichen Ansatz. Polen gehört zu den ethnisch und religiös homogensten Ländern in Europa. Ein muslimischer Einwanderer steht im katholischen Polen für das „Andere“. Und Kaczyński hat diese „Anderen“ im Wahlkampf erfolgreich verteufelt.
Die EU erwägt Sanktionen gegen die Regierungen in Polen und Ungarn. Ist die Lage wirklich so ernst?
Beide befeuern einen Mix aus ethnischer und religiöser Ausgrenzung, um ihre Macht zu stärken. Mich erinnert dies an die Jahre zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, als Admiral Horthy in Ungarn und Marschall Piłsudski in Polen alle demokratischen Institutionen in ihre Hand zu bringen versuchten. Das peilen die neuen Regierungen jetzt wieder an.
Dabei ist Polen zuletzt ökonomisch und politisch eine der größten Erfolgsgeschichten Europas gewesen.
Viele dachten, es könne für Berlin ein ähnlich wichtiger Partner wie Frankreich werden – und auch ein Bollwerk gegen Putins Russland.
Länderprofil Polen
20,3 Dollar (2011, absolutes Bruttoinlandsprodukt geteilt durch BIP pro Person)
39 Millionen
520 Kilometer von Berlin
3,8 (BIP in Prozent)
170 Milliarden Dollar (2011)
199 Milliarden Dollar (2011)
0 (gemäß OECD-Klassifizierung: geringstes Risiko = 0 Punkte, höchstes Risiko = 7 Punkte)
54 Prozent
Das die EU von außen bedroht?
Interessanterweise waren bis vor rund einem Vierteljahrhundert die notleidende Sowjetunion und die aufstrebende EU beide moderne neue Modelle internationaler Regierungsform. Die Sowjetunion versuchte die Proletarier dieser Welt zu vereinen. Der EU ging es um friedliche Integration und Erweiterung nach den Prinzipien einer freien und offenen Gesellschaft.
Und beides ist nun Vergangenheit?
An die Stelle der Sowjetunion ist Putins Russland getreten, das wieder Weltmacht spielen will.
Fünf Folgen der Wirtschaftskrise in Russland
Das von den Einnahmen aus dem Geschäft mit Öl und Gas abhängige Russland steckt in einer Rezession. Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew erwartet einen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um drei Prozent. Im Staatshaushalt klafft eine Finanzlücke.
Wegen des starken Ölpreisverfalls ist der Rubelkurs im vergangenen Jahr im Vergleich zum Dollar und Euro massiv eingebrochen. Den Höhepunkt erreichte der Wertverfall Mitte Dezember, als ein Euro vorübergehend fast 100 Rubel kostete - das entspricht einem Absturz von 90 Prozentpunkten seit Januar 2014. In den vergangenen Wochen erholte sich der Rubel ein wenig. Anfang März mussten Russen für einen Euro noch rund 66 Rubel bezahlen, fast doppelt so viel wie ein Jahr zuvor.
Um den schwächelnden Rubel zu stützen, verkauft die russische Zentralbank im großen Stil Devisen, die die Rohstoffmacht mit dem Verkauf von Öl und Gas angespart hat. Die internationalen Währungsreserven schrumpften nach Angaben der Notenbank seit März 2014 um mehr als ein Viertel von fast 500 Milliarden Dollar (etwa 460 Mrd Euro) auf 360 Milliarden Dollar.
Das Leben in Russland wird rasant teurer. Das merken die Menschen vor allem an der Miete und an der Kasse im Supermarkt. Das Wirtschaftsministerium erwartet für dieses Jahr eine Inflation von rund 12 Prozent. Die Preise für Lebensmittel stiegen in den vergangenen Monaten aber im Durchschnitt sogar um rund 20 Prozent. Experten warnen wegen der Krise in Russland vor einer deutlich höheren Inflation. Manche gehen von bis zu 17 Prozent aus.
Der massive Abzug von Kapital aus Russland ist nach Meinung von Ex-Finanzminister Alexej Kudrin ein schwerer Schlag für die heimische Wirtschaft. 2014 wurden nach Angaben der Zentralbank Vermögenswerte im Wert von mehr als 150 Milliarden Dollar (140 Mrd Euro) aus Russland verlegt, fast zweieinhalb Mal so viel wie im Vorjahr. Für 2015 erwarten die Behörden eine Kapitalflucht von bis zu 100 Milliarden Dollar. Wegen der Senkung der Kreditwürdigkeit Russlands durch internationale Ratingagenturen warnen Experten sogar vor Kapitalflucht von bis zu 135 Milliarden Dollar.
Und in der EU gewinnen nationalistische Tendenzen erneut die Oberhand. Merkel mag an die offene Gesellschaft glauben. Auch die Menschen, die in der Ukraine für Demokratie und Freiheit kämpften, streben danach. Aber diese Werte existieren in der heutigen EU nicht mehr. Europa als gleichberechtigte und freiwillige Partnerschaft? Gibt’s doch nicht mehr.
Aber Merkel hat doch gerade nicht nationalistisch gehandelt. Sie öffnete die Grenze für syrische Flüchtlinge und setzte so auch die EU unter Zugzwang.
Deutschland mag eine Ausnahme sein. Aber jeder Mitgliedstaat achtet peinlich genau auf seine eigenen Interessen. Die EU braucht endlich eine gemeinsame Flüchtlingspolitik. Sie muss umfassend sein und über die Grenzen Europas reichen. Schließlich ist es weniger zerstörerisch und ganz gewiss weniger teuer, wenn Asylsuchende in ihrer jeweiligen Umgebung bleiben. Die EU sollte jährlich 15.000 Euro pro Asylbewerber für Wohnen, Gesundheit und Ausbildung bereitstellen – auch um den Mitgliedstaaten die Aufnahme von Flüchtlingen zu erleichtern.