Großbritannien Sie verstehen auch nicht, was in Nordirland eigentlich los ist? Wir klären auf

Ihr Vorhaben birgt Zündstoff: Liz Truss, Außenminister von Großbritannien, kündigte am Dienstag ein Gesetzesvorhaben an, das die seit dem Brexit neu entstandenen Handelsbarrieren zwischen Nordirland und Großbritannien abbauen soll. Quelle: dpa

Der Zoff um Brexit-Regeln für Nordirland könnte die Region lähmen, Großbritannien weiter spalten – und gar in einem Handelskrieg münden. Dabei wird die Lage immer unübersichtlicher. Antworten auf die drängendsten Fragen.

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Das Brexit-Drama nimmt keine Ende: Schon seit Monaten droht die britische Regierung in London mit einem Alleingang in Sachen Nordirland. Nun hat Außenministerin Liz Truss ein Gesetz angekündigt, mit dem die Regierung in London Teil des Nordirland-Protokolls des Brexit-Abkommens außer Kraft setzen würde. Bis dieses Gesetz dem Parlament in London vorgelegt wird, könnten Wochen vergehen.

Doch sollte es tatsächlich in Kraft treten, würde es einen heftigen Streit mit der EU auslösen, der sogar in einen Handelskrieg münden könnte.

Die wichtigsten Fragen und Antworten im Überblick.

Was sagt Ministerin Liz Truss?

Großbritanniens Außenministerin Truss, die auch für Fragen des Brexits zuständig ist, erklärte am Dienstag vor dem Parlament in London, das Nordirland-Protokoll habe das Verhältnis zwischen Großbritannien und Nordirland „untergraben“. Die „oberste Priorität“ der Regierung sei es, das Karfreitags-Friedensabkommen aus den 1990er-Jahren aufrechtzuerhalten, das den blutigen Nordirland-Konflikt formell beendet hat. Das Protokoll „belaste“ diesen Friedensvertrag, sagte Truss. Das liege daran, dass „ein Teil der Gemeinschaften in Nordirland“ das Protokoll nicht unterstütze.

Truss betonte, dass sie weiter mit der EU verhandeln wolle und darauf hoffe, dass eine Lösung gefunden werden könne. Premier Boris Johnson beschrieb das geplante Gesetz als „Versicherung“ für den Fall, dass die Gespräche ergebnislos verliefen.

Was legt das Nordirland-Protokoll fest?

Schon während der langen und zähen Brexit-Verhandlungen war Nordirland der größte Stolperstein. Denn die Grenze zwischen dem britisch verwalteten Nordirland und der Republik Irland ist die einzige Landgrenze zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU. Diese Grenze ist seit den 1990er-Jahren, als der Binnenmarkt der EU in Kraft trat, praktisch unsichtbar. Die Öffnung der inneririschen Grenze bildete auch die Grundlage für den Frieden in der Region.

Da London schon recht früh einen relativ harten Brexit anstrebte, war klar, dass es irgendwo Güter- und Zollkontrollen geben müsste. Die EU schloss dabei von Anfang an eine erneute Einführung von Grenzkontrollen innerhalb Irlands aus. Die Lösung, zu der sich auch London nach jahrelangem Hickhack bereiterklärte: Nordirland blieb nach dem Brexit im Binnenmarkt der EU und wird seitdem zolltechnisch weiter so behandelt, als sei es Teil der Europäischen Zollunion. Die Folge: Einige Waren, die von Großbritannien nach Nordirland befördert werden, unterliegen nun Kontrollen.

Die Betreiber von Tafeln warnen vor einem drastischen Anstieg an wirtschaftlicher Not. Die steigenden Lebenshaltungskosten wirken sich wegen der großen sozialen und regionalen Unterschiede im Land besonders stark aus.
von Sascha Zastiral

Was sind die wirtschaftlichen Folgen des Nordirland-Protokolls?

Kein Mitglied der Regierung in London würde es jemals öffentlich zugeben, aber Nordirland profitiert wirtschaftlich deutlich von dieser Regelung. Denn das Protokoll gibt Nordirland einen einzigartigen Sonderstatus: Nordirische Unternehmen können weitgehend reibungslos Waren in die EU verkaufen oder von dort beziehen, verfügen aber weiterhin über einen privilegierten Zugang zum britischen Markt. Während Großbritannien unter den Folgen des Brexits zunehmend leidet, hat der nordirische Handel mit der EU im vergangenen Jahr um 60 Prozent zugelegt. Die Region erlebt derzeit einen regelrechten Boom. Wirtschaftsvertreter in Region wenden allerdings ein, dass es wegen des Abkommens heute schwieriger sei, bestimmte Produkte aus Großbritannien zu beziehen. Das bereitet vor allem kleineren Unternehmen Schwierigkeiten.

Was sagen die Nordiren?

Politisch ist das Bild komplexer. Die Region bleibt auch ein Vierteljahrhundert nach dem Friedensabkommen stark gespalten in pro-britische Unionisten und pro-irische Republikaner. Bei den Wahlen zum nordirischen Regionalparlament Anfang des Monats hat zwar die zentristische Alliance Party stark zugelegt, die sich für ein Ende dieser Spaltung einsetzt. Diese ist in der langjährigen Unruheregion jedoch weiterhin tief verankert.

Und so befürwortet die pro-irische Sinn Féin-Partei – die bei den Wahlen erstmals die meisten Sitze gewonnen hat – das Nordirland-Protokoll. Sinn Féin setzt sich für eine Wiedervereinigung Irlands ein und begrüßt entsprechend die Regelung, die Irlands Regionen schon jetzt näher aneinandergerückt hat. Die Unionisten, die eine Wiedervereinigung vehement ablehnen, lehnen daher auch das Protokoll ab. Die Democratic Unionist Party (DUP), die stärkste Unionistenpartei, verweigert deswegen die Bildung einer Einheitsregierung, wie sie in der Region vorgeschrieben ist. Im nordirischen Parlament haben die Gegner des Protokolls jedoch keine Mehrheit.

Was bemängelt die Regierung in London?

Boris Johnson hat 2019 die landesweiten Parlamentswahlen haushoch mit dem Versprechen gewonnen, dass er die festgefahrenen Brexit-Verhandlungen zum Abschluss bringen würde. Er machte sein Versprechen wahr. Ende 2020 unterzeichneten Großbritannien und die EU das Brexit-Abkommen. Johnson verkauften den Briten das Abkommen, das auch das Nordirland-Protokoll enthielt, als „exzellent“. Damit es zu der Einigung kommen konnte, gab Johnson in Sachen Nordirland jedoch weitgehend nach und akzeptierte letzten Endes praktisch alle Forderungen der EU. Seitdem hört man immer wieder von Insidern, dass Johnson das Nordirland-Protokoll nur zum Schein akzeptiert habe und zu einem späteren Zeitpunkt versuchen würde, von Brüssel Zugeständnisse zu erzwingen. Dieser Zeitpunkt scheint jetzt gekommen zu sein.

Um welche inhaltlichen Fragen geht es konkret?

London fordert, dass die Jurisdiktion des Europäischen Gerichts über Nordirland enden müsse. Brüssel argumentiert, dass das höchste Gericht der EU zuständig bleiben müsse, da Nordirland weiter Teil des EU-Binnenmarktes für Waren sei. London beklagte im vergangenen Jahr, dass bestimmte in Großbritannien zugelassene Medikamente unter Umständen nicht mehr in Nordirland verabreicht werden dürften. Die EU erkannte das Problem an und erließ einseitig Lockerungen, mit denen sich London offenbar zufriedengab. Doch nun brachte Johnson das Thema wieder zur Sprache. In Sachen Mehrwertsteuer und Subventionen unterliegt Nordirland weiter EU-Regelungen. London möchte in diesen Fragen offenbar möglichst bald von der EU abweichen und verlangt, dass entsprechende Änderungen in Großbritannien auch in Nordirland gelten sollten. Die EU hat hierzu noch keine Gegenvorschläge gemacht.

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Der größte Streitpunkt sind jedoch die Warenkontrollen. Brüssel hat einige Zugeständnisse angeboten, die London aber nicht weit genug gehen. Die britische Regierung fordert beispielsweise, dass britische Waren, die in Nordirland bleiben sollen, über einen „grünen Kanal“ unkontrolliert in die Region geschickt werden dürfen. Waren, die für die Republik Irland oder den Rest der EU gedacht sind, sollen über einen „roten Kanal“ befördert werden, wo es weiterhin Kontrollen geben würde. Die EU sorgt sich allerdings um die Integrität des Binnenmarkts und konkret davor, dass auf diesem Weg unkontrollierte und unverzollte Waren aus Großbritannien in der EU landen könnten. Diese Sorge ist nicht unberechtigt, schließlich war Schmuggel in Nordirland bis in die 1990er-Jahre ein Problem.

Und was sagt die EU?

EU-Vizekommissionschef Maroš Šefčovič erklärte am Dienstag nach Truss’ Ankündigung, die EU wünsche sich „eine positive und stabile Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich“. Die EU haben Verständnis für die britischen Positionen aufgebracht, sei London bereits entgegengekommen und stehe dafür bereit, nach „gemeinsamen Lösungen“ im Rahmen des Abkommens zu suchen. Einseitige Handlungen, die dem Abkommen zuwiderliefen, seien jedoch „nicht akzeptabel“. Sollte London mit seinen Plänen voranschreiten, bliebe der EU nicht anderes übrig, als „mit allen zur Verfügung stehenden Maßnahmen zu antworten“.

Wie ernst sollte man die Drohungen aus London nehmen?

Im Moment scheinen viele Beobachter zu glauben, dass London nur ein Drohgebilde aufbaut, um die EU zu Zugeständnissen zu zwingen. Während der Brexit-Verhandlungen ging Johnson ähnlich vor – mit begrenztem Erfolg, wie man am erneuten Hickhack um das Nordirland-Protokoll sehen kann. Die Folgen einer offenen Konfrontation mit der EU wären für Großbritannien auch kaum tragbar. Schließlich könnte Brüssel im schlimmsten Fall das Freihandelsabkommen ganz kippen. Die wirtschaftlichen Folgen für Großbritannien, das unter einer rasanten Inflation leidet, wären verheerend. Lieferketten würden zusammenbrechen und Lebensmittelimporte, auf die das Land angewiesen sind, würden sich noch mehr verteuern. Sollte London Teile des Protokolls einseitig aufheben, käme das zudem einem schweren Vertragsbruch gleich. Das dürfte kaum bei den Bestrebungen um Freihandelsabkommen mit Ländern wie Indien helfen.

Doch der Brexit an sich ist insgesamt rational kaum begründbar. Die festgefahrenen Brexit-Verhandlungen haben in der Vergangenheit schon häufiger dazu geführt, dass sich die britische Position verhärtet hat. Und Boris Johnson tendiert häufiger dazu, seine politischen Positionen nach seinen eigenen Interessen auszurichten.

James O’Brien, der bekannteste Radiojournalist des Landes, formulierte diesen Umstand so:



„Johnson ist immer nur von seinen eigenen Interessen motiviert. Die Partei, das Land, Anstand oder gar das Gesetz sind ihm egal. Er wird so lange herumpfuschen und poltern, bis klar ist, welche seine Eigeninteressen sind. Er weiß also noch nicht, was er mit dem Protokoll machen wird…“

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