Großbritanniens Zukunft Was durch das Brexit-Chaos auf der Strecke bleibt

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Infrastrukturprojekte außerhalb Londons

Im Januar 1863 fuhr in London die erste U-Bahn der Welt, die Metropolitan Line. Ähnlich bahnbrechend wie damals ist das gigantische Verkehrsinfrastrukturprojekt, das die britische Hauptstadt seit Jahren in Atem hält: Crossrail, eines der aufwendigsten Eisenbahnprojekte Europas. Von Reading in Berkshire bis Shenfield in Essex führt die 118 Kilometer lange Strecke – ganz London wird einmal untertunnelt. Geschätzte Kosten für das Großprojekt: rund 19 Milliarden Euro.

Im Juni vergangenen Jahres votierte das britische Unterhaus zudem für den Bau einer dritten Start- und Landebahn für den Londoner Flughafen Heathrow, die Kosten könnten sich auf rund 16 Milliarden Euro belaufen.

Beide Projekte sind dringend nötig. „London ist ein Erfolgsmodell. Mit dem Erfolg kommt die Überfüllung des öffentlichen Verkehrssystems“, sagt Fischer. Investitionen in das Verkehrssystem in London lassen sich in Anbetracht dessen leicht rechtfertigen. „Im Norden gibt es dagegen kaum Wirtschaftswachstum.“ Entsprechend hätten Investitionen in Infrastrukturprojekte nicht dieselbe Dringlichkeit. „Das ist nicht schön, aber das fällt international nicht aus dem Rahmen“, sagt Fischer.

Am 11. Dezember stimmt das britische Parlament über das mit der EU ausgehandelte Brexit-Abkommen ab – Ausgang ungewiss. Ein Brite, der in Deutschland arbeitet, erzählt, was die jahrelange Ungewissheit mit ihm macht.
von Niklas Dummer

Der Ökonom Odendahl sieht dagegen auch abseits der Leuchtturmprojekte in London Handlungsbedarf. „Zwischen Liverpool und Leeds fährt immer noch die Diesellokomotive“, sagt er. „Im gesamten Land wären großflächige Infrastrukturinvestitionen vonnöten.“ Aufgrund des Brexits wage die Regierung in London allerdings nicht, die notwendigen Investitionen freizugeben. „Das Staatsbudget steht aufgrund des Brexit noch vor großen Herausforderungen, deswegen hält sich die Regierung zurück“, glaubt Odendahl.

Berufsausbildung

„Als ich noch in London tätig war, habe ich eines von deutschen Unternehmern immer wieder gehört“, sagt Fischer. „Es ist schwierig bis unmöglich, gut ausgebildete Facharbeiter in England zu finden.“ Es gebe gutausgebildete, gar brillante Arbeitnehmer – aber die Fachkräfte, der große, solide Mittelbau, auf dem die deutsche Wirtschaft ruhe, der fehle.

Bekannt ist dieses Problem schon seit Jahrzehnten. Der frühere britische Premier Tony Blair machte 1997 Wahlkampf mit dem simplen wie eingängigen Slogan: „Education, Education, Education“. „Er hat damals viel Geld in Schulen gesteckt“, erinnert sich Fischer. „Eine ordentliche Berufsbildung, die Facharbeiter dazu qualifiziert, selbstständig zu arbeiten und Probleme zu lösen, die gibt es in England nach wie vor nicht.“

Stattdessen gibt es mannigfaltig definierte Fähigkeiten – sogenannte Self Certification Schemes – die sich Auszubildende und Arbeitnehmer in verschiedenen Modulen aneignen. Welche Fähigkeiten man sich aneignet, entscheiden die Auszubildenden selbstständig.
Dass es überhaupt ein solches Qualifikationssystem gibt, geht auf Bemühungen der Industrie zurück. „Eine solche freiwillige Selbstzertifizierung ist zwar ein guter Schritt in die richtige Richtung, aber bis zu einem System wie dem deutschen dualen System ist es noch ein weiter Schritt“, sagt Fischer.

Erschwerend hinzu kommt: Die Einwanderung aus der EU nach Großbritannien fiel 2017 auf ein Fünfjahrestief. Gegenüber dem Juni 2015, ein Jahr vor dem Referendum, hat sich die Zahl der EU-Zuwanderer nach Großbritannien beinahe halbiert. „Der Brexit hat gerade qualifizierte Migranten aus der EU abgeschreckt“, sagt der Ökonom Odendahl.

In Großbritannien wüssten alle, Deutschland habe in puncto Human Ressource einen großen Vorteil, sagt Fischer. „Hier aufzuschließen wäre für Großbritannien als Wirtschaftsstandort extrem relevant, es gibt sogar konkrete Ideen.“ Mit dem Brexit scheint eine Reform des Ausbildungssektors allerdings auch erst einmal vom Tisch zu sein.

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