Kampf gegen Corona Johnsons Exzeptionalismus wird den Briten zum Verhängnis

Boris Johnson muss sich derzeit harscher Kritik zu seinem Handeln während der Corona-Pandemie stellen. Quelle: AP

Boris Johnson hatte allen Grund, diese Untersuchung zu fürchten: Ein Bericht des britischen Parlaments wirft der Regierung grobe Fehler zu Beginn der Pandemie vor. Man habe sich eher auf etwas wie die Grippe eingestellt.

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Das Urteil hätte wohl kaum vernichtender ausfallen können: Großbritanniens anfängliche Antwort auf die Corona-Pandemie sei „einer der schlimmsten Misserfolge im Bereich der öffentlichen Gesundheit“ in der Geschichte des Landes. Gruppendenken, der Glaube an den britischen „Exzeptionalismus“ und eine bewusst verzögerte Antwort auf den Ausbruch der Pandemie hätten dazu geführt, dass Großbritannien im Kampf gegen Covid „wesentlich schlechter“ abgeschnitten habe als andere Länder.

Zu diesem Schluss kommen zwei Ausschüsse des britischen Parlaments in einem gemeinsamen Bericht. Federführend waren die Tory-Abgeordneten Jeremy Hunt und Greg Clark, beide ehemalige Minister. Für ihren 151 Seiten langen Bericht haben die Abgeordneten mit mehr als 50 Zeugen gesprochen, unter anderem mit dem ehemaligen Gesundheitsminister Matt Hancock.

Einer der schwersten Vorwürfe gegenüber der Regierung von Boris Johnson lautet, dass sie zu Beginn der Pandemie versucht habe, die Bevölkerung gezielt erkranken zu lassen, um so eine Herdenimmunität herbeizuführen. Regierungsvertreter und führende Berater weisen das stets vehement zurück. In ihrem Bericht kommen Hunt und Clark nun allerdings zu dem Schluss, dass die Regierung mit ihrer frühen Entscheidung, die Ausbreitung der Krankheit nicht länger einzudämmen sondern nur noch zu verzögern, „in der Praxis“ akzeptiert habe, dass es zu einer Herdenimmunität durch massenhafte Infektionen kommen würde.

Die Pandemievorkehrungen des Landes hätten sich zudem zu stark an Modellen für Grippeepidemien orientiert, ohne Erkenntnisse aus den Sars-, Mers- oder Ebola-Ausbrüchen der vergangenen Jahre einzubeziehen. Diese Einschätzung deckt sich mit den Äußerungen eines namentlich nicht genannten hochrangigen Politikers, den die Londoner „Times“ bereits im April 2020 mit den Worten zitierte: „Alle unsere Planungen waren für die Grippe. Im Grunde gab es eine Kluft zwischen Wissenschaftlern in Asien, die (Covid) als eine schreckliche, tödliche Krankheit wie Sars ansahen, die einen sofortigen Lockdown erforderte, und denen im Westen, insbesondere in den USA und Großbritannien, die dies als Grippe betrachteten.”

Die späte Verhängung des Lockdowns im März 2020 sei dem aktuellen Bericht zufolge nicht infolge von Meinungsverschiedenheiten oder aufgrund bürokratischer Verzögerung erfolgt. „Es war eine bewusste politische Maßnahme“, vorgeschlagen von den offiziellen wissenschaftlichen Regierungsberatern, umgesetzt von den Regierungen in allen Landesteilen. „Es ist nun klar, dass das die falsche Politik war und zu einer höheren anfänglichen Zahl an Todesopfern geführt hat, als es bei einer nachdrücklicheren frühen Politik der Fall gewesen wäre.“

Der Grund: Unter den Wissenschaftlern und Ministern, die damals eng zusammengearbeitet haben, habe sich damals offenbar Gruppendenken eingestellt. Gemeint ist ein Phänomen, bei dem sich einzelne Personen so sehr der angenommenen Meinung einer Gruppe unterordnen, dass diese Gruppe anfängt, fragwürdige Entscheidungen zu treffen. Das habe zu einigen der schwerwiegendsten frühen Versäumnisse geführt.

Der Bericht enthält auch Lob für die Art und Weise, wie die Regierung die Entwicklung diverser Impfstoffe unterstützt habe, einschließlich des Oxford/AstraZeneca-Impfstoffs. Dadurch seinen weltweit Millionen von Menschenleben gerettet worden.

Die wenig dankbare Aufgabe, die Regierung zu verteidigen, kam am Dienstag Kabinettsminister Stephen Barclay zu. Und der wollte die Kritik nicht stehenlassen. Die Regierung habe zu Beginn der Pandemie „Entscheidung getroffen, um schnell zu handeln“, erklärte der Minister in einem Interview mit dem Nachrichtensender Sky News. „Die Regierung traf damals Entscheidungen auf der Grundlage der wissenschaftlichen Ratschläge, die sie erhalten hat, aber diese Wissenschaftler arbeiteten selbst in einem ganz neuen Umfeld.“ Auf die mehrfache Frage, ob er sich bei den Familien der Covid-Opfer entschuldigen wolle, wich er mehrfach aus. „Natürlich gibt es einiges zu lernen, deshalb haben wir uns einer Untersuchung verschrieben“, fügte er hinzu.

Gemeint ist eine offizielle, öffentliche Covid-Untersuchung, in der das Verhalten der Regierung noch stärker unter die Lupe genommen werden soll. Boris Johnson ist Forderungen nach einer solchen Untersuchung lange ausgewichen, angeblich, um das Gesundheitssystem und die Regierung nicht unnötig unter Druck zu setzen, solange die Pandemie andauert. Zuletzt kündigte er die Untersuchung für die erste Jahreshälfte des kommenden Jahres an.

Was Johnson von dem Bericht der Abgeordneten hält, ist nicht bekannt. Allen Krisen zum Trotz (explodierende Energiepreise, Versorgungsprobleme im gesamten Land, ein weiterer drohender schwerer Knatsch mit der EU, Streit mit der Wirtschaft des Landes) ruht sich der Premier gerade in der Villa eines milliardenschweren Parteifreunds in Spanien aus.



Johnson hat allen Grund, eine Untersuchung zu fürchten. Denn den Exzeptionalismus, den die Abgeordneten in ihrem Bericht ankreiden, konnte man bei keinem anderen so gut beobachten wie bei ihm. Im Februar 2020, wenige Wochen, bevor die Pandemie Großbritannien mit voller Wucht traf, hielt Johnson eine Rede in Greenwich. In seiner gewohnt überdrehten Bildsprache sagte er: „Wenn das Risiko besteht, dass eine neue Krankheit wie das Coronavirus eine Panik auslöst und das Verlangen nach einer Marktsegregation auslöst, die über das medizinische Sinnvolle hinausgeht, und die einen echten und vermeidbaren wirtschaftlichen Schaden auslösen könnte, dann ist der Moment gekommen, an dem die Menschheit eine Regierung braucht, die gewillt ist, ihre Clark-Kent-Brille abzunehmen und in die Telefonzelle zu springen, um mit wehendem Umhang als Vorkämpferin hervorzutreten, um für das Recht der Bevölkerungen der Erde zu kämpfen, untereinander frei zu kaufen und zu verkaufen.“ Und Großbritannien sei dazu bereit, diese Rolle zu übernehmen, fügte Johnson hinzu.

Johnson, der libertäre Superheld, der sich Covid in den Weg stellt. Alles, was seitdem folgte, kann man aus dieser Erklärung ableiten. Sie liefert auch eine anschauliche Erklärung dafür, wieso Johnson seit dem Beginn der Pandemie immer wieder Lockdowns viel zu spät verhängt hat. Wegen der Schwere der Ausbrüche mussten die Lockdowns dann jedes Mal auch länger aufrecht erhalten werden, als in anderen Ländern. Infolgedessen brach die britische Wirtschaft stärker ein als in jedem anderen vergleichbaren Industrieland.

Dank der raschen und erfolgreichen Impfkampagne konnten die britischen Behörden die Covid-bedingten Einschränkungen ab dem Frühjahr dieses Jahres schneller zurückfahren als andere europäische Länder. Als Johnson im Juli dann abermals seinen libertären Instinkten freien Lauf ließ und praktisch sämtliche noch bestehenden Covid-Einschränkungen aufhob, blieb der erhoffte wirtschaftliche Boom jedoch aus.

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Mehr zum Thema: Die britische Regierung ruft die Bürger dazu auf, nach eigenem Ermessen Corona-Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen. Beschränkungen soll es nicht geben – obwohl deren drastische Rücknahme im Juli ihr Ziel verfehlt hat. Die Wirtschaft stagniert.

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