Knauß kontert

Der Westen ist kein Vorbild mehr

Ferdinand Knauß Quelle: Frank Beer für WirtschaftsWoche
Ferdinand Knauß Reporter, Redakteur Politik WirtschaftsWoche Online Zur Kolumnen-Übersicht: Anders gesagt

Was in der Türkei derzeit geschieht, ist ein weiteres Indiz dafür, dass der Westen nicht mehr als nachahmenswertes Vorbild wahrgenommen wird. Denn: Wir sind reich, aber zeigen uns schwach.

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Türkei: Demonstrationen für Recep Tayyip Erdoğan. Quelle: Getty Images

Schaut man sich Fotografien aus Afghanistan, Ägypten oder anderen Ländern der so genannten islamischen Welt in den 1960er oder 1970er Jahren an, so fällt vor allem eines auf: das offen getragene Haar vieler, vor allem junger Frauen, oftmals kombiniert mit kurzen Röcken und sichtbaren Knien. Man sieht da Frauen durch Kabul laufen und Mädchen an Schulbänken, die ganz offensichtlich dem westlichen Lebensstil nacheifern. Gleiches gilt für das Ägypten unter der Herrschaft Gamal Abdel Nassers. Aus der Türkei gibt es solche Bilder – mit zeitgemäß längeren Röcken – schon aus den 1920er Jahren.

In der Mitte des 20. Jahrhunderts konnte es kaum einen Zweifel geben: Die Zukunft der islamischen Welt schien in der Nachahmung westlicher (zeitweise auch kommunistischer) Staaten zu liegen. Die Führungsrolle in diesem Prozess hatte ganz ohne Frage die Türkei.

Ein westliches Land zu werden, war das Programm des Republik-Gründers Mustafa Kemal, bis heute „Atatürk“ - Vater der Türken - genannt. Die sichtbarsten Sinnbilder seines staatsmännischen Werkes waren die Abschaffung der arabischen und die Einführung der lateinischen Schrift, das Verbot des Fes als bis dahin traditionelle Kopfbedeckung der Männer und des Kopftuches der Frauen. In seiner berühmten „Hutrede“ und dem „Hutgesetz“ von 1925 legte Atatürk fest, dass die Türken europäische Hüte zu tragen hätten. Der Iran unter Shah Pahlawi legte bald nach und verordnete eine westlichen Vorbildern nachempfundene Pahlawi-Mütze.

Visumfreiheit: Was die EU von der Türkei verlangt

Auch in Ägypten verschwand der Fes bald aus der Öffentlichkeit. In Syrien, bis 1944 unter französischer Mandatsverwaltung, setzten sich die modernisierungseifrigen neuen Eliten nicht nur Hüte auf (weswegen sie „Chapisten“ genannt wurden), sondern nutzten nach Atatürks Vorbild eine Zeitlang auch die lateinische statt der arabischen Schrift.

Wer sich nur ein klein wenig mit der Geschichte des Vorderen Orients im 19. und 20. Jahrhunderts befasst hat, wird wissen, dass Fragen der Kleidung und vor allem der Kopfbedeckung in diesen Ländern wenig mit Moden oder persönlichen Stil-Entscheidungen zu tun haben. Sie hatten stets und haben weiterhin hochpolitische Signalbedeutung.

Keine Frage, das Hutgesetz und all die anderen Reformen der Verwestlichung in islamischen Ländern waren nicht Ergebnis eines demokratisch artikulierten Volkswillens, sondern wurden von autoritär herrschenden Eliten verordnet. Kemal war ebenso wenig ein Demokrat wie Nasser oder der Shah. Die Verwestlichung bedeutete auch nicht, dass man die Europäer und Amerikaner verehrte oder gar liebte. Eher im Gegenteil. Der Westen war Vorbild, weil seine Staaten stark und mächtig waren, während die islamischen Staaten und erst recht die kolonialisierten Länder schwach und ohnmächtig erschienen.

Die Verwestlichung war in der Türkei ebenso wie in Ägypten, Syrien, Afghanistan oder dem Iran als Weg zur Selbstständigkeit gegen die europäischen Kolonialmächte und ihre offene politische oder versteckte ökonomische Dominanz gedacht. Man eiferte dem Westen nach, um ihm Paroli bieten zu können.

Nicht nur die Kleidung heutiger Frauen in islamischen Ländern inklusive der Türkei - das Kopftuchverbot ist mittlerweile offiziell abgeschafft - zeigt, wie sehr sich der Wind gedreht hat. In der gesamten islamischen Welt ist mehr oder weniger laut vor allem ein Ruf zu vernehmen, nämlich die Parole der ägyptischen Muslimbrüder: „Al-islam huwa al-hal“ – Der Islam ist die Lösung. Das bedeutet stets auch: Die Übernahme westlicher Werte ist es nicht!

Deutschland ist reich, aber ein schwacher Staat

Spätestens der nach dem gescheiterten Putsch vom 15. Juli mit demonstrativer Härte sich offenbarende Wille der islamistischen AKP zur autoritären Herrschaft zeigt, dass auch die Türkei von ihrem seit Atatürk (und teilweise schon vorher) eingeschlagenen Weg abkehrt und die westlichen Gesellschaften und politischen Systeme nicht mehr als Vorbild der eigenen Entwicklung ansieht. Die neue Türkei unter der Herrschaft Erdogans und der AKP ist, wie der Islamologe Bassam Tibi feststellt, für den Westen bis auf weiteres verloren. Das ist ein Vorgang von weltgeschichtlicher Bedeutung, da es sich um das Land handelt, das bislang an der Spitze der Verwestlichung der islamischen Welt marschierte.

Erdogan und seine nationalen Islamisten demonstrieren gerade der gesamten islamischen Welt, dass man sich von den Europäern nichts mehr sagen lassen muss, sondern selbst erfolgreich Druck auf sie ausüben kann – nicht zuletzt mit der Drohung, die Schleusen für weitere Massenzuwanderung zu öffnen. Europa, seine unfreiwillige Führungsmacht Deutschland vorneweg, erscheint dadurch vor den Augen der gesamten, nicht nur islamischen Welt als schwach. Warum sollte man den Schwachen nacheifern?

Scharfe Töne aus Deutschland
Elmar BrokDer CDU-Europapolitiker Elmar Brok hält die Forderungen der Türkei zur Einführung der Visumfreiheit für legitim. „Die Türkei hat bislang ihren Teil im Flüchtlingsdeal erfüllt. Jetzt mahnt sie an, dass die EU auch ihren Teil erfüllt. Das ist legitim“, sagte Brok der Online-Zeitung „Huffington Post“. Fakt sei aber auch, dass die EU keine Visumfreiheit geben könne, wenn die Türkei gegen Grundrechte verstoße. „Wir sollten die übrigen zwei Monate nutzen, mit der Türkei in Ruhe zu verhandeln“, sagte Brok. Ohne das Abkommen mit Ankara kämen wieder Millionen Flüchtlinge nach Europa. Quelle: dpa
Frank-Walter SteinmeierBundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier will mit der Türkei über Visumfreiheit erst sprechen, wenn die Regierung alle Auflagen dafür erfülle. „Es gibt Bedingungen für die Visafreiheit, und diese sind allen Seiten bekannt“, sagte der SPD-Politiker der „Rheinische Post“ (Dienstagsausgabe). Die Türkei habe sich verpflichtet, die notwendigen Schritte zu unternehmen, um diese Bedingungen zu erfüllen. „Das ist momentan allerdings noch nicht der Fall und die Türkei hat da noch Arbeit vor sich.“ Quelle: AP
Katrin Göring-EckardtDie Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt hat sich für ein Aussetzen der EU-Beitrittsgespräche mit Ankara ausgesprochen. „Solange die Türkei sich im Ausnahmezustand befindet, kann es definitiv keine weiteren Beitrittsverhandlungen geben“, sagte sie den Zeitungen der Funke Mediengruppe (Freitag). „Auch das EU-Türkei-Abkommen steht zur Disposition“, sagte sie mit Blick auf den Flüchtlingspakt. Die Bundesregierung dürfe nicht „kurzfristige Interessen in der Flüchtlingsfrage über das Wohl von 80 Millionen“ Türken stellen, sagte Göring-Eckardt. Kanzlerin Angela Merkel müsse das direkte Gespräch mit Präsident Recep Tayyip Erdogan sowie der Opposition suchen und Ankara deutlich machen, dass der Rechtsstaat umgehend wieder hergestellt werden müsse. Quelle: dpa
Sevim DagdelenDie Linken-Bundestagsabgeordnete Sevim Dagdelen forderte erneut Sanktionen gegen den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan. „Wir brauchen wegen seiner brutalen Verfolgungspolitik mit Folter und Massenverhaftungen in der Türkei endlich Sanktionen gegen Erdogan. Seine Konten müssen gesperrt werden“, sagte sie der „Neuen Osnabrücker Zeitung“. Quelle: dpa
Sigmar GabrielDas harsche Vorgehen der türkischen Regierung gegen ihre Gegner nach dem Putschversuch reißt immer tiefere Gräben zu Europa auf. In einer gereizten Atmosphäre stellte der türkische Außenminister Mevlüt Cavusoglu am Montag den Flüchtlingspakt zwischen der EU und seinem Land infrage und forderte ultimativ die versprochene Visumfreiheit für Türken. Die Antwort kam prompt: „In keinem Fall darf sich Deutschland oder Europa erpressen lassen“, sagte SPD-Chef Sigmar Gabriel. Ähnlich äußerte sich auch CDU-Vize Thomas Strobl. „So haben Staaten nicht miteinander umzugehen“, sagte er der „Rheinischen Post“ (Dienstagsausgabe). Quelle: dpa
Mevlut CavusogluDie türkische Regierung hat Befürchtungen in der EU genährt, dass sie den Flüchtlingspakt mit der Union aufkündigen und damit eine neue Zuwanderungswelle nach Europa auslösen könnte. Außenminister Mevlut Cavusoglu setzte der Europäischen Union am Sonntag ein Ultimatum zur Aufhebung der Visumspflicht. Das Flüchtlingsabkommen funktioniere, weil sein Land "sehr ernsthafte Maßnahmen" ergriffen habe, etwa gegen Menschenschmuggler, sagte Cavusoglu der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (Montagausgabe) nach einer Vorabmitteilung. "Aber all das ist abhängig von der Aufhebung der Visumpflicht für unsere Bürger, die ebenfalls Gegenstand der Vereinbarung vom 18. März ist", sagte er. Quelle: AP

Aber Moment. Weist die Kanzlerin nicht zu Recht immer wieder auf Deutschlands Stärke hin? Geht es uns nicht nachweislich besser als je zuvor? Und vor allem sehr viel besser als den Türken und erst Recht den Menschen in allen anderen islamisch geprägten Ländern?

Die Kanzlerin verwechselt da was – und nicht nur sie. Europa und Deutschland im Besonderen stehen wirtschaftlich gut da – vor allem im Vergleich zu den desolaten ökonomischen Verhältnissen in den meisten islamischen Ländern. Doch Reichtum ist nur innerhalb einer gewaltfreien, durch und durch zivilisierten, befriedeten Gesellschaft automatisch mit Stärke gleichzusetzen. Nicht nur aus der Perspektive vorderorientalischer, gewaltgewohnter Gesellschaften ist Deutschland zwar zweifellos ein reiches Land, aber kein starker Staat.

Denn ein Staat, dessen Regierungschefin offen verkündet, es sei unmöglich, die eigenen Grenzen zu schließen; dessen Behörden 600 Abschiebungen abgelehnter Asylbewerber abbrechen, weil diese im Flugzeug randalieren; und dessen Polizei nicht in der Lage oder willens ist, die massenhafte Belästigung und Ausraubung hunderter Frauen zu verhindern oder auch nur zu ahnden, wird sicher weder den politischen Eliten noch den einfachen Leuten in der islamischen Welt als besonders nachahmenswertes Vorbild erscheinen.

Im Westen zu leben, an seinem Reichtum teil zu haben, ist zweifellos attraktiver als je zuvor für Muslime und andere Nicht-Europäer. Aber sich seinen Sitten anzupassen und seine Institutionen zu übernehmen, ob im Heimatland oder als Einwanderer, ist etwas ganz anderes. Das tut man allenfalls, wenn man von deren Überlegenheit über die eigenen Sitten und Institutionen überzeugt ist. Die westlichen Staaten und das Masseneinwanderungsland Deutschland vorneweg hätten guten Grund, die eigene Überlegenheit nach innen und außen selbstbewusst zu demonstrieren.

Ein starker Staat, der das Gewaltmonopol durchsetzt, für Recht und Ordnung sorgt, damit die Voraussetzung für individuelle bürgerliche Freiheit und Unternehmertum schafft, was wiederum die Voraussetzung von „Wohlstand für alle“ ist – das war es, was muslimische Staatsmänner wie Mustafa Kemal Atatürk am Westen bewunderten. Das wollten sie nachahmen. Einen erpressbaren, selbstlosen Feigling nimmt sich niemand zum Vorbild.

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