Schon bei seinem Amtsantritt als Kommissionspräsident im Jahr 2014 hatte Jean-Claude Juncker eine „Europäische Säule sozialer Rechte“ in Aussicht gestellt. Jetzt hat sein Vize-Präsident Vladis Dombrovskis das Programm in Einzelheiten vorgestellt. Kern ist eine Erklärung in drei Kapiteln, die soziale Rechte der Europäer festhält: faire Arbeitsbedingungen, Gleichberechtigung auf dem Arbeitsmarkt und nachhaltiger Sozialschutz.
Die Erklärung soll nicht nur eine Kommissions-Empfehlung bleiben, sondern demnächst dem EU-Parlament und den EU-Mitgliedsstaaten zur Zustimmung vorgelegt werden. „Die Säule ändert nichts an den Zuständigkeiten und wir haben nicht die Absicht jeden einzelnen Aspekt in Gesetzen zu regeln“, betonte Marianne Thyssen, EU-Kommissarin für Beschäftigung, Soziales, Qualifikationen und Arbeitskräftemobilität. Der Wunsch der Kommission: Die EU-Mitgliedstaaten bekennen sich freiwillig zu der „Sozialen Säule“ und den darin geforderten Standards. „Eine entsprechende Erklärung sollte bis zum Ende des Jahres fertig sein“, so EU-Kommissions-Vize Dombrovskis.
Bessere Vereinbarkeit von Job und Familie
Neben eher vagen und rechtlich unverbindlichen Vorschlägen für Standards sticht nur eine einzige geplante Richtlinie hervor, die für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sein soll. Sie sieht vor, dass Väter und Mütter in allen Mitgliedsstaaten bis zum zwölften Lebensjahr des Kindes mindestens vier Monate Elternzeit nehmen dürfen und in dieser Zeit ein Entgelt erhalten, das sich auf dem Niveau eines Krankengelds bewegt. Darüber hinaus möchte die EU-Kommission zehn Tage Sonderurlaub für Eltern nach der Geburt oder Adoption – für Mütter wie Väter. Zum Richtlinienvorschlag gehört auch die Stärkung der Pflege: Arbeitnehmer, die einen engen Angehörigen pflegen, sollen pro Jahr fünf Tage zugesprochen bekommen, an denen sie sich um das kranke Familienmitglied kümmern können. Auch hierfür soll es ein Entgelt auf Niveau des Krankengelds geben.
Europäisches Sozial-Rating
Mit einem „Sozialen Scoreboard“ will die Kommission einen Wettbewerb unter den Mitgliedsstaaten um möglichst gute Sozialstandards anregen. Geplant ist eine jährlich aktualisierte Rangliste aller Euro-Länder nach ihrem Sozialstatus – vergleichbar mit den Ratings von Moody’s und anderen Agenturen. Wenn also der Anteil der Schulabbrecher oder die Jugendarbeitslosigkeit wachsen, sinkt die Sozialbewertung des entsprechenden Landes.
Die fünf Szenarien der EU-Kommission zur Zukunft Europas
Die EU der 27 verbleibenden Staaten würde sich weiter an ihren bisherigen Grundfesten orientierten. Dazu gehören etwa die Verteilung von Entscheidungskompetenzen zwischen den nationalen Regierungen und der übergeordneten EU-Ebene. Neue Probleme würden angegangen, wenn sie entstehen. Das Tempo, mit dem Einigungen gefunden würden, hinge dabei stark davon ab, wie schnell sich die Staaten untereinander auf gemeinsame Positionen verständigen könnten. In einigen Bereichen könnte dies zu Stillstand führen.
Die EU-Staaten konzentrieren sich nur noch auf den Binnenmarkt, vor allem auf den grenzüberschreitenden Warenverkehr. In anderen Bereichen werden keine gemeinsamen Lösungen mehr gesucht, die Regierungen können individuell Entscheidungen treffen. Ihre Zusammenarbeit organisieren die Staaten bilateral untereinander und je nach Interessenlage. Für jede neue EU-Regelung werden zwei bestehende zurückgezogen. Die EU als Ganzes wird in zahlreichen internationalen Organisationen nicht mehr vertreten sein.
Im Grundsatz arbeitet die EU weiter wie bislang, es müssen aber nicht mehr alle Staaten bei Allem mitmachen. Stattdessen bekommt eine Reihe von Staaten die Möglichkeit, in einzelnen Bereichen, etwa bei der Verteidigung oder bei Sozialem, enger zusammenarbeiten. In der Praxis liefe dies auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten hinaus. Im Ansatz - etwa bei den 19 Staaten, die sich den Euro als Gemeinschaftswährung gegeben haben - gibt es das bereits.
Die EU würde sich nicht mehr um eine große Bandbreite an Themen kümmern. Gemeinschaftsregelungen sollten demnach nur noch in einigen als wichtig identifizierten Bereichen gefunden werden. Welche das sein könnten, ist offen. In den ausgewählten Politikfeldern würde die EU aber mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet, so dass Ergebnisse schneller und effizienter erzielt werden könnten.
Diese Modell stellt eine Art Vereinigte Staaten von Europa dar. Die 27 Länder einigen sich darauf, mehr Entscheidungsgewalt aus den Hauptstädten abzugeben und Beschlüsse gemeinsam zu treffen. Grundlage hierfür ist die Annahme, dass weder die EU in ihrer bestehenden Form, noch isoliert handelnde europäische Staaten den weltweiten Herausforderungen gewachsen sind. In der Folge könnten Gemeinschaftsentscheidungen deutlich schneller getroffen und umgesetzt werden. In Teilen der Bevölkerung, die der EU die Rechtmäßigkeit absprechen oder finden, dass den Nationalstaaten bereits zu viel Macht abhanden gekommen ist, dürfte das aber Unmut auslösen, hieß es in dem Papier.
Selbstständige und unregelmäßig Beschäftigte wie Zeitarbeiter sollen arbeits- und sozialrechtlich besser abgesichert werden. „Die EU-Kommission möchte diese Löcher schließen und Wege finden, sodass jeder, der arbeitet, Zugang zu sozialer Absicherung bekommt“, hieß es. Konkrete Maßnahmen werden nicht benannt. Zudem sollen Europäer nach dem Wunsch der EU-Kommission leichter Zugang zu qualitativ guter Gesundheitsversorgung und Kinderbetreuung erhalten.
Sicherheit durch Arbeitsverträge
Neben der sozialen Absicherung will die EU-Kommission auch die Rechte von Arbeitnehmern gestärkt sehen. Hierzu soll eine seit 1991 bestehende Richtlinie überarbeitet werden, in der festgehalten ist, dass Arbeitnehmern ein Arbeitsvertrag zusteht. „Die heute sehr flexiblen Arbeitsverhältnisse bieten neue Anstellungsmöglichkeiten, die gerade bei jungen Menschen zu Ungleichheiten führen können“, heißt es im Kommissionspapier.