Tauchsieder

Macron führt - Merkel vor?

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Man muss Macron dankbar sein

Viertens: Auch die Geschichte des Euro ist nur vor dem Hintergrund geschichtlicher Missionen in Deutschland und Frankreich zu verstehen: In Frankreich, das sich gerade von einer Franc-Krise erholt hat, kann man sich 1988 nicht einmal im Traum vorstellen, dass Deutschland auf die D-Mark verzichtet: „Die Macht Deutschlands“, weiß Mitterrand, „beruht auf der Wirtschaft, und die D-Mark ist Deutschlands Atombombe.“

Doch Kohl ist auch diesmal bereit, Deutschland zur europäischen Subsidiarmacht zu schrumpfen – koste es, was es wolle. Gegen den Willen seiner Finanzminister, gegen den Einspruch der Bundesbank und erst recht gegen die Wirtschaftsdaten einiger Euro-Länder, verzichtet er auf Deutschlands Status einer finanziellen Nuklearmacht und setzt 1991 in Maastricht seinen Fahrplan zur Währungsunion durch: „Ich bin mir sicher: In fünf oder sechs Jahren werden auch die Briten mit dem Euro zahlen… In zehn Jahren wird es die einheitliche Währung auch in Zürich geben.“

Man hat Kohl viel vorgeworfen, damals und heute: ruchlosen Optimismus (Wilhelm Hennis), politischen Unverstand (Johannes Gross), einen merkwürdigen Willen zur „währungspolitischen Selbstentmächtigung Deutschlands“ (Hans Peter Schwarz). Diese Rügen treffen ins Schwarze – und doch auch wieder nicht.

Denn der stupenden Naivität, mit der sich Kohl Europa „als großen, farbenprächtigen Blumenstrauß“ vorstellte, stand eine störrische Unbeirrbarkeit entgegen, mit der er die EU – das avantgardistischste internationale Projekt der Nachkriegszeit – seiner mutmaßlichen Vollendung entgegentrieb: „Die Alternative heißt, zurück zu Wilhelm II., das bringt uns nichts“, sagte Kohl – er war der letzte deutsche Kanzler, der überhaupt noch fähig war, einen solchen Satz zu denken: ein visionärer Kanzler, der Deutschlands Zukunft konsequent von der Vergangenheit her entwarf, das heißt: von der Geschichte eines Landes, das seine historische Schuld zur Staatsräson und zum postnationalen Programm erhoben hatte.

Und - was bedeutet das alles mit Blick auf das deutsch-französische Verhältnis heute? Erstens: Jede nationalistische, ausgrenzende Rhetorik vergiftet das Klima und zersetzt die Freundschaft: Wem an Europa etwas liegt, der sollte alle pejorativen Vokabeln, die im Umlauf sind, alle bezichtigenden Generalisierungen markieren und politisch ahnden. Zweitens: Das ökonomische Grundverständnis ist in beiden Ländern fundamental verschieden - das muss respektiert, darf kritisiert, sollte aber keinesfalls belehrend gegeneinander ausgespielt werden. Drittens: Weil in Deutschland, nicht nur in den Reihen der AfD, das Selbstverständnis schwächelt, sich aus historischen Gründen einem europäischen Postnationalismus verpflichtet zu fühlen, und weil Frankreich zugleich Gefahr läuft, seine Identität als revolutionäre Grande Nation der Freiheit und Demokratie rechtsnational zu verhöhnen, müssen beide Länder tatsächlich versuchen, ihre Beziehungen auf eine neue, in die Zukunft weisende Grundlage zu stellen.

Der Revolutionär aus der Investmentbank
Emmanuel Macron zögerte lange, ehe er seine Präsidentschaftskandidatur verkündete. Quelle: REUTERS
Der amtierende französische Präsident Emmanuel Macron war zuvor bereits Wirtschaftsminister und Investmentbanker bei Rothschild & Cie. Quelle: AP
Wie andere Kandidaten für das höchste Staatsamt kritisierte auch Emmanuel Macron im Wahlkampf lautstark die politischen Eliten Quelle: dpa
Der ehemalige sozialistische Staatspräsident François Hollande und Emmanuel Macron vor dem Elysee-Palast. Quelle: REUTERS
Im Kabinett galt Emmanuel Macron als einer der beliebtesten Politiker, trat im August 2016 allerdings als Minister zurück. Quelle: REUTERS
Seit 2007 ist Emmanuel Macron mit seiner Frau Brigitte verheiratet. Quelle: REUTERS
Am 14. Mai 2017 wurde Emmanuel Macron ins Amt eingeführt. Quelle: REUTERS

Es reicht nicht mehr aus, dass „die Deutschen eine Scheu davor haben, sich selbst zu regieren“ und deshalb „ein europaweites System schaffen, in dem sich keine Nation mehr selbst regiert“, so die britische Premierministerin Margaret Thatcher bereits 1989 denn: „Wenn die Deutschen glauben, auf diese Weise ihre Probleme lösen zu können, unterliegen sie einem Trugschluss.“

Kurzum: Man muss Emmanuel Macron dafür dankbar sein, dass er die Chance ergreift - dass er die Beziehungen nicht mehr historisch begründet, sondern versucht, neu aufzugleisen. Zumal sich mehr als 70 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg die Nachbarschaftsgefühle auch unterhalb der politischen Ebene abkühlen: Eine gemeinsame deutsch-französische Öffentlichkeit gibt es immer noch nicht; die Hochzeit des intellektuellen Austauschs und Interesses (Sartre, Camus, Deleuze, Foucault) ist seit Jahrzehnten vorbei - und nach Angaben des Deutsch-Französischen Instituts in Ludwigsburg steigen zwar die grenzüberschreitenden Übernachtungszahlen stark an, doch was den Fremdsprachenerwerb anbelangt, so sind die Zahlen rückläufig: Nur jeder vierte deutsche Schüler lernt noch Französisch, nur jeder siebte französische Schüler lernt deutsch.

Mitarbeit: Anna Pia Möller

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